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»Muß ich?« fragte Onkel Andrew.

Digory und Polly warfen sich einen Blick zu. Sie wagten es nicht, etwas zu sagen, doch ihr Blick hieß: »Wie schrecklich!« und: »Wir müssen ihn unbedingt bei guter Laune halten.«

»Wenn Sie uns jetzt essen gehen lassen, können wir ja anschließend wiederkommen«, schlug Polly vor.

»Woher soll ich wissen, ob ihr dann wiederkommt?«

Onkel Andrew lächelte verschlagen. Doch dann schien er sich anders zu besinnen.

»Tja«, meinte er, »wenn ihr absolut gehen müßt, dann muß ich euch eben gehen lassen. Ich kann nicht erwarten, daß ihr Freude daran habt, mit so einem alten Esel wie mir zu reden.« Er seufzte und fuhrt fort: »Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie einsam ich manchmal bin. Aber das macht nichts. Geht essen. Doch zuvor muß ich euch noch ein Geschenk machen. Es passiert ja schließlich nicht alle Tage, daß mich ein kleines Mädchen hier in meinem schäbigen Arbeitszimmer besucht – und erst recht keine so hübsche Dame wie du.«

Polly bekam langsam den Eindruck, Digorys Onkel sei vielleicht doch nicht übergeschnappt.

»Hättest du gern einen Ring, mein Schätzchen?« fragte Onkel Andrew.

»So einen gelben oder so einen grünen?« erkundigte sich Polly. »Wie schön!«

»Die grünen kann ich leider nicht weggeben«, entgegnete Onkel Andrew. »Aber von den gelben schenke ich dir gern einen. Komm her und probier einen an!«

Polly hatte jetzt fast gar keine Angst mehr. Außerdem war sie inzwischen ganz sicher, daß der alte Herr nicht übergeschnappt sein konnte. Und eigenartigerweise besaßen die funkelnden Ringe eine starke Anziehungskraft.

Sie ging näher.

»Oh!« rief sie. »Hier wird das Summen lauter! Mir scheint fast, als wären es die Ringe, die das Geräusch machen.«

»Das bildest du dir nur ein, mein Schätzchen«, widersprach Onkel Andrew und lachte. Sein Lachen klang ganz natürlich, aber Digory hatte gesehen, daß in seinem Gesicht Ungeduld lag, oder fast so etwas wie Gier.

»Polly! Du spinnst!« rief er. »Rühr sie nicht an!«

Doch es war zu spät. In diesem Moment streckte Polly die Hand aus und berührte einen gelben Ring. Und auf der Stelle, geräuschlos und ohne jegliche Warnung, war Polly weg. Digory und sein Onkel waren ganz allein im Zimmer.

DIGORY UND SEIN ONKEL

 Das Ganze ging so schnell, daß Digory einen Schrei ausstieß. So etwas Gräßliches hatte er noch nie erlebt – nicht einmal in seinen schlimmsten Alpträumen. Doch Onkel Andrew hielt ihm sofort die Hand vor den Mund. »Ruhe!« zischte er Digory ins Ohr.

»Wenn du schreist, dann hört dich deine Mutter. Und du weißt ja, was passieren kann, wenn sie sich aufregt.«

Digory sagte später, ihm sei fast schlecht geworden bei dieser gemeinen Erpressung. Aber natürlich schrie er kein zweites Mal.

»So ist es besser«, sagte Onkel Andrew. »Vielleicht kannst du ja auch gar nichts dafür. Es ist wirklich ein Schock, wenn man das erste Mal sieht, wie einer verschwindet. Selbst ich bin erschrocken, als vor ein paar Tagen das Meerschweinchen plötzlich weg war.«

»Ach, das war also der Schrei?« meinte Digory.

»Oh, du hast ihn gehört? Ich hoffe, du hast mir nicht nachspioniert?«

»Nein, hab’ ich nicht«, entgegnete Digory empört.

»Aber was ist mit Polly passiert?«

»Du darfst mir gratulieren, mein Junge«, sagte Onkel Andrew und rieb sich die Hände. »Mein Experiment ist geglückt. Das kleine Mädchen ist weg – ganz und gar verschwunden aus dieser Welt.«

»Was hast du mit ihr gemacht?«

»Ich hab’ sie – tja –, ich hab’ sie an einen anderen Ort geschickt.«

»Was meinst du damit?«

Onkel Andrew setzte sich und sagte: »Nun, ich werde dir alles erklären. Hast du jemals von der alten Mrs. Lefay gehört?«

»War das nicht eine Großtante?« fragte Digory.

»Nicht ganz«, antwortete Onkel Andrew. »Sie war meine Patin. Das ist sie, dort an der Wand.«

Digory schaute auf. Da hing ein vergilbtes Porträtfoto einer Frau. Jetzt fiel ihm wieder ein, daß er in einer Schublade zu Hause auf dem Land schon einmal ein Foto dieser Frau entdeckt hatte. Er hatte seine Mutter gefragt, wer das sei, aber es war ihm so vorgekommen, als wolle sie nicht viel über diese Frau sagen. Sie hatte ganz und gar kein nettes Gesicht, fand Digory, obwohl man das bei den frühen Fotografien ja nicht so recht beurteilen konnte.

»War da – war da nicht irgendwas, was nicht stimmte mit ihr, Onkel Andrew?«

»Tja«, antwortete der Onkel kichernd, »das hängt davon ab, was du darunter verstehst. Die Menschen sind schrecklich engstirnig. Aber im Alter wurde sie tatsächlich sehr eigenartig. Benahm sich sehr unvernünftig. Deshalb hat man sie eingesperrt.«

»In die Irrenanstalt?«

»Oh, nein, nein, nein!« protestierte Onkel Andrew schockiert. »Ganz und gar nicht. Nur ins Gefängnis.«

»O je!« rief Digory. »Was hatte sie denn angestellt?«

»Ach, die arme Frau«, klagte Onkel Andrew. »Sehr unvernünftige Dinge hat sie angestellt. Alles mögliche. Aber darüber brauchen wir nicht zu reden. Zu mir war sie jedenfalls immer sehr nett.«

»Aber was hat denn das alles mit Polly zu tun? Ich wollte, du…«

»Alles zu seiner Zeit, mein Junge«, meinte Onkel Andrew. »Bevor die alte Mrs. Lefay starb, hat man sie freigelassen, und ich war einer der wenigen, den sie noch zu sich ließ, als sie auf dem Sterbebett lag. Normale, unwissende Leute konnte sie nicht mehr ertragen. Mir geht es genauso. Wir beide hatten die gleichen Interessen. Ein paar Tage vor ihrem Tod befahl sie mir, ihr aus dem Geheimfach ihres alten Sekretärs in ihrem Haus eine Schatulle zu bringen. Als ich die Schatulle berührte, spürte ich an dem Prickeln in den Fingern, daß ich ein großes Geheimnis in den Händen hielt. Mrs. Lefay nahm mir das Versprechen ab, die Schatulle sofort nach ihrem Tod ungeöffnet und unter Einhaltung gewisser Zeremonien zu verbrennen. Dieses Versprechen habe ich nicht gehalten.«

»Das war aber doch ziemlich gemein von dir«, meinte Digory.

»Gemein?« sagte Onkel Andrew. Er sah verwirrt aus.

»Oh, ich verstehe. Du meinst, ein kleiner Junge muß seine Versprechen halten. Sehr richtig: So gehört es sich. Davon bin ich überzeugt, und ich bin froh, daß man dich so erzogen hat. Aber du mußt wissen, daß solche Regeln wie gut sie für kleine Jungen, für Bedienstete, für Frauen und für die Leute ganz allgemein auch sein mögen – keinesfalls für Wissenschaftler, für große Denker und Weise gültig sein können. Nein, Digory. Männer wie ich, die im Besitz geheimer Weisheiten sind, unterliegen nicht den gewöhnlichen Gesetzen. Desgleichen sind uns die gewöhnlichen Freuden verschlossen. Unser Los, mein Junge, ist bedeutungsschwer und voller Einsamkeit.«

Dabei seufzte er und machte ein so ernstes, edles und geheimnisvolles Gesicht, daß Digory einen Augenblick lang wirklich fand, da habe sein Onkel etwas Schönes gesagt. Doch dann fiel ihm Onkel Andrews häßlicher Gesichtsausdruck kurz vor Pollys Verschwinden wieder ein. Und im selben Augenblick durchschaute er die großspurigen Worte seines Onkels. Das bedeutet lediglich, daß er der Meinung ist, ihm sei alles erlaubt, egal was er erreichen will, dachte Digory.

»Selbstredend habe ich lange nicht gewagt, die Schatulle zu öffnen, denn ich wußte, daß sie vielleicht höchst gefährliche Objekte enthielt. Meine Patin war nämlich eine sehr außergewöhnliche Frau. Sie war eine der letzten Sterblichen dieses Landes, in deren Adern Feenblut floß. Sie hat mir erzählt, daß es außer ihr damals noch zwei weitere solche Frauen gab – die eine war Herzogin, die andere Putzfrau. Du stehst also höchstwahrscheinlich vor dem allerletzten Mann, der eine Patin hatte mit Feenblut in den Adern. Was sagst du dazu? Das ist sicher eine schöne Erinnerung für dich, wenn du mal alt bist.«