Er blieb bis nach Mitternacht bei den Geschichtenerzählern und ging dann auf sein Zimmer. Er schlief tief und fest, erwachte bei Tagesanbruch und arbeitete den Morgen über im Gasthof. Inzwischen fand er es gar nicht mehr so schlecht, zurückgelassen worden zu sein. Schließlich war ihm auch keine unbedeutende Rolle zugedacht. Wenn die Mordgeister tatsächlich von den magischen Elfensteinen wußten und kämen, um den Besitzer zu suchen, dann befand sich Wil Ohmsford in ebenso großer Gefahr wie seine Tochter — vielleicht sogar in größerer. Also kam es darauf an, daß Jair die Augen offenhielt, damit seinem Vater nichts zustieß, ehe er gewarnt werden konnte.
Gegen Mittag war Jair mit seiner Arbeit fertig, und der Wirt dankte ihm und sagte, er könnte sich nun freinehmen. Also spazierte er hinaus in die Wälder hinter dem Gasthaus, wo sich sonst niemand aufhielt, und übte ein paar Stunden mit dem Wunschlied; er benutzte die Zauberei auf die unterschiedlichste Weise und freute sich, wie alles nach seinem Willen geschah. Er dachte wieder an die beständigen Mahnungen seines Vaters, den Elfenzauber nicht zu benutzen. Sein Vater hatte einfach kein Verständnis. Der Zauber war Teil von ihm und ihn zu benutzen so selbstverständlich wie der Gebrauch von Armen und Beinen. Er konnte sich ebensowenig über dessen Existenz hinwegtäuschen wie er sich nicht vorstellen konnte, keine Arme und Beine mehr zu besitzen. Seine beiden Eltern versicherten stets, der Zauber wäre gefährlich. Brin behauptete das gelegentlich auch, allerdings weit weniger überzeugt, da sie ihn selbst ebenfalls anwandte. Er war überzeugt, daß sie ihm das nur erzählten, weil er jünger war als Brin und sie sich größere Sorgen um ihn machten. Er hatte bislang nichts erlebt, was darauf hätte schließen lassen, daß der Zauber gefährlich wäre; und solange das nicht der Fall war, hatte er die feste Absicht, sich seiner zu bedienen.
Auf dem Rückweg zum Gasthaus, als die ersten Schatten des frühen Abends allmählich durch den späten Nachmittagssonnenschein sickerten, kam ihm der Gedanke, daß er vielleicht einmal nach dem Haus sehen sollte — nur um sicherzugehen, daß alles in Ordnung war. Es war natürlich abgeschlossen, aber es würde nicht schaden, trotzdem mal nachzuschauen. Schließlich gehörte die Obhut des Hauses nun zu seinen Aufgaben.
Beim Gehen erwog er die Angelegenheit und beschloß dann, bis nach dem Abendessen mit der Inspektion zu warten. Essen schien ihm jetzt dringlicher als zum Haus zu wandern. Der Gebrauch des Zaubers machte ihn immer hungrig.
Er schlenderte die Waldwege entlang, die zum Gasthof führten, atmete die Düfte des Herbsttages ein und dachte an Fährtensucher. Fährtensucher faszinierten ihn, Fährtensucher waren eine besondere Sorte Mensch, welche die Spuren aller Lebewesen allein aus der Beobachtung der Gegend, durch die sie kamen, erkennen konnten. Die meisten von ihnen waren eher in der Wildnis zu Hause, als daß sie sich in Siedlungen fest niederließen. Die meisten zogen die Gesellschaft ihrer eigenen Art vor. Jair hatte sich einmal mit einem Fährtensucher unterhalten — es schien inzwischen Jahre zurückzuliegen —, einem alten Burschen, den ein Reisender zufällig mit angebrochenem Bein gefunden und zum Gasthof geschleppt hatte. Der alte Mann war fast eine Woche im Gasthaus geblieben, bis das Bein so weit geheilt war, daß er wieder gehen konnte. Der Fährtensucher hatte anfänglich nichts mit Jair zu tun haben wollen, obgleich der Junge sich hartnäckig bemühte — und nebenbei bemerkt auch mit niemand anderem —, aber dann hatte Jair ihm etwas, nur einen Hauch von dem Zauber vorgeführt. Interessiert hatte sich daraufhin der alte Mann mit ihm unterhalten, zögernd zu Anfang, später intensiver. Und was für Geschichten der alte Mann zu erzählen gewußt hatte!
Jair schwenkte auf die Straße zum Gasthaus, bog in den Seiteneingang und mußte breit grinsen, als er sich erinnerte, wie es damals gewesen war. Und in diesem Augenblick erblickte er den Gnomen.
Einen Moment lang dachte er, seine Augen würden ihm Streiche spielen, und er blieb an Ort und Stelle stehen. Seine Hand lag auf der Türklinke, als er über die Einfahrt zum Zaun des Stalls starrte, wo die knorrige, gelbe Figur stand. Dann drehte der andere ihm das schrumplige Gesicht zu, der scharfe Blick suchte den seinen, und er wußte sofort, daß er sich nicht täuschte.
Eilig stieß er die Wirtshaustür auf und trat hinein. Er lehnte sich gegen die geschlossene Tür zurück, war nun alleine im Hausflur und versuchte, sich zu beruhigen. Ein Gnom! Aber was suchte ein Gnom in Shady Vale? Vielleicht ein Reisender? Aber nur wenige Gnome zogen hier entlang — eigentlich sogar ganz wenige überhaupt außerhalb der vertrauten Grenzen der Wälder vom Ostland. Er konnte sich gar nicht erinnern, wann das letzte Mal ein Gnom in Shady Vale gewesen war. Aber jetzt war einer hier. Vielleicht waren es sogar mehr als einer.
Er trat rasch von der Tür weg und ging in die Halle hinab bis an ein Fenster, das zur Fahrstraße hin lag. Vorsichtig spähte er mit angespanntem Elfengesicht um den Fensterrahmen und suchte mit den Augen den Innenhof und den Zaun dahinter ab. Der Gnom stand noch dort, wo Jair ihn zuerst gesehen hatte, und hielt den Blick immer noch aufs Gasthaus gerichtet. Der Junge aus dem Tal schaute sich um. Sonst schien sich keiner mehr in der Nähe aufzuhalten.
Er lehnte sich wieder an die Wand zurück. Was sollte er nun machen? War es Zufall, daß dieser Gnom ausgerechnet zu einer Zeit nach Shady Vale kam, da Allanon sie gewarnt hatte, die Mordgeister kämen sie suchen? Oder war das überhaupt kein Zufall? Jair zwang sich, langsamer zu atmen. Wie konnte er das herausfinden? Wie konnte er sich Klarheit verschaffen?
Er holte tief Luft. Das erste, was er nicht vergessen durfte, war, ruhig zu bleiben. Ein Gnom stellte keine ernste Gefahr dar. Er nahm den Duft von brutzelndem Rindergulasch wahr und mußte daran denken, wie hungrig er war. Er zögerte noch einen Augenblick, ehe er schließlich den Weg zur Küche einschlug. Am besten dachte er das alles beim Abendessen durch. Eine gute Mahlzeit zu sich nehmen und einen Plan schmieden, wie er vorgehen wollte. Er nickte beim Gehen vor sich hin. Er würde sich vorstellen, in Rones Haut zu stecken. Wenn Rone hier wäre, wüßte er, was zu tun sei. Jair würde versuchen müssen, ebenfalls zu einem Schluß zu kommen.
Das Rindergulasch war vorzüglich, und Jair hatte einen Bärenhunger, trotzdem fand er es schwierig, sich in dem Bewußtsein, daß ein Gnom vor dem Haus stand und alles beobachtete, sich auf das Essen zu konzentrieren. Mitten während der Mahlzeit erinnerte er sich plötzlich an sein verlassenes, unbewachtes Elternhaus und die darin versteckten Elfensteine. Falls dieser Gnom sich auf Geheiß der schwarzen Wandler hier befand, dann konnte er ebenso gut auf der Suche nach den Elfensteinen, den Ohmsfords oder Allanon sein. Und vielleicht befanden sich auch schon andere auf der Suche.
Er schob seinen Teller fort, leerte den Rest des Biers und huschte aus der Küche wieder zu dem Fenster im Flur. Vorsichtig spähte er hinaus. Der Gnom war fort.
Er fühlte, wie sein Herz schneller schlug. Was jetzt? Er drehte sich um und rannte die Halle hinab. Er mußte nach Hause. Er mußte sich vergewissern, daß sich die Elfensteine in Sicherheit befanden, sonst... Er stoppte mitten im Schritt und ging langsamer. Er wüßte nicht, was er dann tun sollte. Er würde abwarten müssen. Er beschleunigte sein Tempo wieder. Wichtig war nun nachzusehen, ob jemand versucht hatte, ins Haus einzudringen oder nicht.