Brins dunkelhäutiges Gesicht verhärtete sich. „Erzähl mir, was du magst, Schatten. Doch ich werde nur auf die Wahrheit hören.“
„Tatsächlich? Steht es mir an zu urteilen, was Wahrheit ist und was nicht, da wir von Dingen sprechen, die erst noch eintreten müssen?“ Die Stimme des Finsterweihers war leise und höhnisch. „Das Buch deines Lebens liegt offen vor mir, obgleich noch nicht alle Seiten geschrieben sind. Du wirst diejenige sein, die sie füllt, nicht irgendwelche Worte, die ich aussprechen könnte. Du bist die letzte von dreien, die jeweils im Schatten der anderen lebten, von denen jeder sich davon zu befreien suchte, sich jeder davon entfernte und dann doch wieder auf die Vorgänger zurückgriff. Und doch ist dein Rückgriff der unheilvollste für das Land.“
Brin zögerte unsicher. Shea Ohmsford mußte der erste, ihr Vater der zweite und sie die dritte sein. Jeder hatte sich von dem Vermächtnis des Elfenhauses Shannara, von dem sie alle abstammten, befreien wollen. Aber was bedeutete der Schluß?
„Ach, der Tod erwartet dich im Lande der Wandler“, zischte der Finsterweiher leise. „In der Grube der Finsternis, im Herzen der Magie, die du zu zerstören trachtest, wirst du den Tod finden. Es ist vorherbestimmt, denn du trägst den Keim bereits in deinem Körper.“
Die Hand des Mädchens fuhr ungeduldig in die Höhe. „Dann erkläre mir, wie ich dorthin komme, Finsterweiher. Nenn mir einen Weg in den Maelmord, der mich vor den Blicken der Wandler schützt. Laß mich geradewegs auf meinen Tod zueilen, wenn du es so siehst.“ Der Finsterweiher lachte hämisch. „Kluges Mädchen, du möchtest mich verleiten, dir gerade heraus zu sagen, was zu erfahren du in Wirklichkeit gekommen bist. Ich weiß, was dich hierherführt, Kind der Elfenrasse. Vor mir kannst du nichts geheimhalten, denn ich habe schon immer gelebt und werde ewig leben. Es ist meine freie Entscheidung, in dieser alten Welt zu bleiben, anstatt friedlich in einer anderen zu leben. Ich habe jene aus Fleisch und Blut, die heute meine einzigen Gefährten sind, zu Spielzeugen gemacht und habe nicht einmal die Deckung verlassen, in die ich mich selbst verbannt habe. Möchtest du die Wahrheit dessen, was du erfragst, wissen, Mädchen aus dem Tal? Dann erbitte sie dir.“
Zorn stieg angesichts der prahlerischen Worte des Finsterweihers in ihr auf, und sie trat bis an den Rand der grauen Wasser des Sees. Gischt sprühte als Warnung aus dem Nebel, aber sie ignorierte sie.
„Man hat mich gewarnt, daß du dieses Spielchen mit mir treiben würdest“, sagte sie, und nun klang ihre eigene Stimme bedrohlich. „Ich bin von weit hergekommen und habe eine Menge Kummer durchgemacht. Ich bin nicht bereit, mich nun von dir quälen zu lassen.
Treib mich nicht in die Enge, Schatten. Sprich nichts als die Wahrheit. Wie gelange ich in die Grube des Maelmords, ohne von den Wandlern gesehen zu werde?“
Der Finsterweiher kniff wütend die Augen zusammen; sie funkelten dunkelrot, als das Schweigen sich zwischen ihnen in die Länge zog. „Such dir deinen Weg selbst, Brin von den Tal-Leuten“, fauchte der Finsterweiher.
Erneuter Zorn erfüllte Brin, und sie vermochte ihn nur mit purer Willenskraft in der Gewalt zu halten. Sie nickte wortlos, daß sie verstanden hatte, trat dann zurück, setzte sich ans Ufer und schlug ihren Mantel eng um sich.
„Es ist zwecklos, daß du wartest“, spöttelte der Geist.
Aber Brin rührte sich nicht. Sie wahrte sorgsam ihre Fassung, atmete die feuchte Luft vom See ein und konzentrierte ihre Gedanken. Der Finsterweiher verharrte in der Schwebe über den Wassern des Sees; er bewegte sich nicht und hielt den Blick auf sie geheftet. Brin sog diesen Blick förmlich ein. Ein gelassener Ausdruck trat auf ihr dunkelhäutiges Gesicht, und ihr dunkles Haar wehte nach hinten. Noch begreift er nicht, was ich vorhabe! Sie lächelte innerlich, und der Gedanke war auch schon wieder fort, wie er gekommen war.
Dann hob sie leise zu singen an. Das Wünschlied stieg mit süßen, zärtlichen Worten von den Lippen des Mädchens am Seeufer in den Mittag auf, um die Luft um sie her zu erfüllen. Rasch flog es dahin und fesselte die nebelhafte Gestalt des Finsterweihers, umspann und bannte sie mit seinem Zauber. Der Schatten erschrak derartig, daß er sich nicht von der Stelle rührte, sondern im Netz der Magie schwebend hing, als es sich langsam zuzog. Dann schien der Finsterweiher für den Bruchteil einer Sekunde zu fühlen, was ihm widerfuhr. Unter seinen zusammengerafften Gewändern brodelte und zischte das Wasser des Sees. Doch das Wünschlied umhüllte schnell die ganze in Bann geschlagene Figur und sponn sie ein wie eine Insektenpuppe.
Nun kam die Stimme des Mädchens schneller und in eindeutigerer Absicht. Die Hülle des ersten Liedes, die sanfte, mutterschoßhafte Einbettung, die den Finsterweiher gefangengenommen hatte, ohne daß er das bemerkte, war fort. Nun saß er so fest wie eine Fliege im Spinnennetz und konnte behandelt werden, wie es der in den Sinn kam, die ihn überwältigt hatte. Und doch setzte die Talbewohnerin weder körperliche Kraft noch geistige Stärke gegen dieses Wesen ein, denn jene hatte sie als nutzlos erkannt. Erinnerungen waren die Waffen, derer sie sich nun bediente — Erinnerung von einstmals Gewesenem, Erinnerungen dessen, was dahin und niemals wiederzuerlangen war. Sie alle auferstanden mit der Musik des Wünschliedes. Da war das liebevolle, freundliche Streicheln einer menschlichen Hand. Da waren Duft und Geschmack von Süße und Helligkeit, das Gefühl von Liebe und Freude, von Leben und Tod. All diese Erinnerungen wurden wach und viele andere, die der Finsterweiher in seiner jetzigen Gestalt eingebüßt und sie kaum noch aus seinem längst vergangenen Leben bewahrt hatte.
Mit qualvollem Aufschrei versuchte der Finsterweiher den alten Gefühlen zu entgehen und schillerte und wogte in einer Wolke von Nebel. Doch er vermochte sich dem Zauber des Liedes nicht zu entziehen; langsam ergriff und packte er ihn und lieferte ihn völlig seinen Erinnerungen aus. Brin konnte spüren, wie die Gefühle des Schattens wieder zu Leben erwachten und inmitten der wiedererweckten Erinnerungen strömten seine Tränen. Sie sang kraftvoll anhaltend. Als der Geist ganz in ihrer Gewalt stand, verhärtete sie sich gegen ihren eigenen Schmerz und entzog ihm, was sie gegeben hatte.
„Nein!“ heulte die Erscheinung entsetzt auf. „Gib sie mir zurück, Talmädchen! Gib sie mir zurück!“
„Sag mir, was ich wissen wollte“, sang sie und sponn Fragefäden in ihr Lied. „Sag es mir!“
Mit erschreckender Plötzlichkeit strömten die Worte aus dem Finsterweiher, als würden sie durch die Qual, die seine vergessene Seele peinigte, befreit. „Graumark überspannt den Maelmord, wo dieser im Rabenhorn liegt — Graumark, die Burg der Mordgeister. Dort befindet sich der Weg, den du suchst, ein Labyrinth von Abwasserkanälen, die von seinen Sälen und Zimmern tief durch das Gestein führen, auf welchem es steht, um sich in ein Becken weit unterhalb zu ergießen. Schleich dich durch die Kanalisation ein, und die Wandler werden dich nicht sehen!“
„Das Schwert von Leah!“ drängte Brin unbarmherzig weiter. „Wo steckt es. Sag mir, wo man es finden kann!“
Der Schmerz schüttelte den Finsterweiher durch und durch, als sie ihn höhnisch mit dem Gefühl dessen, was für immer verloren war, streichelte. „Bei den Spinnengnomen!“ schrie der Schatten verzweifelt. „Die Waffe liegt mitten in ihrem Lager; sie haben sie aus dem Mangold-Strom gefischt, wo sie Netze und Reusen vom Ufer ausgelegt haben!“
Unvermittelt löste Brin den Zauber des Wünschliedes mit den Erinnerungen und Empfindungen des früheren Lebens. Sie zog es mit einem raschen, schmerzlosen Schwung zurück und befreite den Schatten aus den Fesseln, die ihn gehalten hatten. Die Echos des Liedes hallten in der Stille nach, die über dem verlassenen See hing, und erstarben zu einem einzigen, qualvollen Ton, der durch die Mittagsluft klang. Es war ein Ton des Vergessens — ein süßer, gespenstischer Schrei, der den Finsterweiher zurückließ, wie er zuvor gewesen war.