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Es gab keine andere Lösung, als das Wunschlied zu benutzen.

Er benötigte einen Augenblick, seine Stimme auf die entsprechende Höhe einzustellen, als er das Summen der Stechmücken rund um sich her nachahmte, die noch in der Wärme des Frühherbstes am Leben geblieben waren, bis die winterliche Kälte sie würde erfrieren lassen. Dann robbte er von den Kiefern fort durch den sich lichtenden Wald. Er hatte diesen Trick ein- bis zweimal zuvor angewendet, doch niemals unter Bedingungen, die es so unbedingt notwendig gemacht hätten. Er bewegte sich ruhig und ließ sich durch seine Stimme eins werden mit dem nächtlichen Wald, wohlwissend, daß er für die Augen, die nach ihm Ausschau hielten, unsichtbar wäre, wenn er es richtig machte. Das Haus rückte beständig näher, während er sich seinen Weg dorthin bahnte. Wieder sah er den Gnomen, der in den Bäumen hinter dem dunklen Haus Wache hielt. Dann bemerkte er plötzlich einen zweiten, ein Stück zu seiner Rechten neben den hohen Sträuchern vor dem Haus, dann noch einen jenseits der Straße im Schierling. Keiner schaute in seine Richtung. Er wäre gern gelaufen, ja so schnell wie der Nachtwind gerannt, um in die schützende Dunkelheit des Hauses zu gelangen, doch er ging ruhigen Schritts weiter und summte unablässig und leise vor sich hin. Wenn mich bloß keiner sieht, betete er. Wenn mich bloß keiner sieht.

Er überquerte den Rasen, indem er von Baum zu Busch huschte, und sein Blick schoß umher, um all die Gnomen ringsum zu entdecken. Die Hintertür, dachte er währenddessen — sie wäre am einfachsten zu benutzen, lag sie doch tief im Schatten hoher, blühender Sträucher, die noch voll belaubt waren...

Ein plötzlicher Ruf von irgendwo hinter dem Haus ließ ihn plötzlich furchterfüllt und unvermittelt wie versteinert stehenbleiben. Der Gnom auf der Rückseite des Ohmsford-Hauses trat zwischen den Eichen hervor, Mondschein blitzte auf seinem langen Messer. Wieder ertönte der Ruf, dann plötzliches Gelächter. Die Klinge wurde gesenkt. Der Lärm stammte von den Nachbarn ein Stück weiter die Straße hinab, die sich an dem warmen Herbstabend unterhielten und scherzten, nachdem sie ihr Abendessen beendet hatten. Schweiß tränkte Jairs Hemd, und zum erstenmal fürchtete er sich. Keine zehn Meter entfernt drehte sich der Gnom, der aus den Eichen getreten war, um und verschwand wieder zwischen den Bäumen. Jairs Stimme zitterte und festigte sich dann wieder, um ihn weiter zu verbergen. Er ging schnell weiter.

An der Tür hielt er inne, ließ das Wunschlied auf der Stelle verstummen und versuchte verzweifelt, sich zu fassen. Er durchwühlte seine Taschen, bis er schließlich den Hausschlüssel herausbeförderte, ihn ins Schloß steckte und vorsichtig umdrehte. Die Tür ging geräuschlos auf. Innerhalb eines Augenblicks stand er drinnen.

Im Dunkeln blieb er wieder stehen. Irgend etwas stimmte nicht. Er konnte es eher fühlen als beschreiben — es war eine Empfindung, die ihm kalt bis ins Mark drang. Irgend etwas stimmte nicht. Das Haus... das Haus war nicht wie sonst; es war anders... Er verhielt sich still und wartete, daß seine Sinne ihm offenbarten, was da vor ihm verborgen war. Während er so dastand, wurde er sich langsam bewußt, daß sich außer ihm noch etwas im Haus aufhielt, etwas Schreckliches, etwas so Böses, daß allein seine Gegenwart die Luft mit Angst erfüllte. Was immer es war, es schien überall gleichzeitig zu sein, ein scheußliches, schwarzes Leichentuch, das sich über das Ohmsford-Haus gelegt hatte. Etwas, flüsterte sein Denken, etwas... Ein Mordgeist.

Ihm stockte der Atem. Ein Wandler — hier, in ihrem Haus! Nun fürchtete er sich wirklich, da die Bestätigung seiner Vermutung ihm den letzten Rest Mut raubte. Jair fühlte, daß er im Dunkel des angrenzenden Raums auf ihn wartete. Er würde wissen, daß er hier war und würde sich auf ihn stürzen — und er wäre nicht in der Lage, sich zu wehren!

Einen Augenblick lang fühlte er die Gewißheit, daß er gleich loslaufen würde, wenn die ihn durchflutende Panik ihn erst überwältigte. Doch dann dachte er an seine Eltern, die ahnungslos zurückkehren würden, wenn er versagte, und an die Elfensteine, die einzige Waffe, vor welcher die Finsteren sich fürchteten — keine zwölf Meter von seinem Standort entfernt in ihrem Versteck.

Er dachte nicht weiter; er handelte einfach. Wie ein lautloser Schatten trat er an den Steinkamin, an dem in der Küche gekocht wurde, und seine Finger tasteten die rauhe Oberfläche des Steins ab, wo er sich in eine Reihe von nischenartigen Vertiefungen hinten an der Mauer entlangzog. Am Ende der dritten Nische gab der Stein unter seiner Berührung nach. Seine Hand schloß sich um einen kleinen Lederbeutel.

Im Raum nebenan rührte sich etwas.

Dann ging plötzlich die Hintertür auf und eine stämmige Gestalt schob sich ins Blickfeld. Jair drückte sich tief in die Dunkelheit der Kaminwand und stand fluchtbereit. Doch die Gestalt ging an ihm vorüber, ohne den Schritt zu verlangsamen und hielt den Kopf gesenkt, als suchte sie ihren Weg zu erkennen. Sie betrat das vordere Zimmer und eine tiefe, kehlige Stimme flüsterte dem Geschöpf, das dort wartete, etwas zu.

Innerhalb eines Augenblicks schoß Jair davon: durch die noch offene Tür zurück in den Schatten der blühenden Sträucher. Er hielt gerade so lange inne, um zu erkennen, daß es sich um den Gnomen handelte, der bei den Eichen Wache gehalten hatte, der nun ins Haus getreten war, dann raste er zu den Bäumen, um dort Deckung zu suchen. Schneller, schneller! schrie er sich lautlos zu. Und ohne einen letzten Blick zurückzuwerfen, flüchtete Jair Ohmsford in die Nacht.

4

Es sollte eine qualvolle Flucht werden.

Schon einmal waren Ohmsfords im Schütze der Nacht vor schwarzen Wesen aus dem Tal geflohen, die sie kreuz und quer durch die vier Länder jagen sollten. Es lag nun über siebzig Jahre zurück, daß Shea und Flick Ohmsford aus ihrem Haus in Shady Vale geschlüpft und mit knapper Not den monströsen, geflügelten Schädelträgern entkommen waren, die der Dämonen-Lord geschickt hatte, um sie zu vernichten. Jair kannte ihre Geschichte; sie waren kaum älter gewesen als er, als sie nach Osten, nach Culhaven zu den Zwergen geflüchtet waren. Aber Jair Ohmsford war nicht weniger fähig als sie. Auch er war im Tal aufgewachsen und verstand etwas vom Überleben in unbekanntem Land.

Als er durch die Wälder des Tales hastete und kaum mehr bei sich hatte als die Kleider, die er am Leibe trug, das Jagdmesser der Talbewohner an seinem Gürtel und den Lederbeutel mit den Elfensteinen in seiner Jacke, tat er das mit dem Vertrauen in seine Fähigkeit, sich unbeschadet zu seinem Ziel durchzuschlagen. Seine Flucht hatte nichts Panisches an sich; sie war nur von einem deutlichen Gefühl der Erwartung geprägt. Nur einen Augenblick lang hatte ihn die Furcht beherrscht, als er in der Küche seines Hauses im Schatten des großen Kamins gestanden und in die Stille gelauscht hatte, wohl wissend, daß nur einen Raum weiter einer der Geister wartete, und wohl fühlend, daß die Boshaftigkeit dieses Wesens sogar die Luft schwängerte, die er atmete. Aber das lag hinter ihm und verlor sich in der Dunkelheit, die immer tiefer in die Vergangenheit rutschte, während er weiterlief, und nun dachte er mit Klarheit und Entschiedenheit.

Das Ziel, das er für seine Flucht ausersehen hatte, war Leah. Es lag eine Dreitagesreise entfernt, doch er hatte sie schon häufig zurückgelegt und konnte sie bewältigen, ohne Gefahr zu laufen, sich zu verirren. Darüber hinaus ließe sich in Leah die Hilfe finden, die im Tal nicht zu bekommen war. Shady Vale war ein kleiner Weiler, dessen Bewohner schlecht gewappnet waren, den schwarzen Wandlern oder ihren Gnomen-Verbündeten Widerstand zu leisten. Leah dagegen war eine Stadt; die Gegenden des Hochlands unterstanden monarchischer Herrschaft und waren durch ein stehendes Heer geschützt. Rone Leahs Vater war König und ein guter Freund der Familie Ohmsford. Jair würde ihm erzählen, was vorgefallen war, und ihn überreden, Patrouillen nach Süden zu schicken, um seine Eltern zu suchen, damit man sie vor der im Tal lauernden Gefahr warnen konnte. Dann würden sie alle in der Stadt Zuflucht suchen, bis Allanon mit Brin und Rone zurückkehrte. Nach Jairs Auffassung war das ein hervorragender Plan, und er konnte keinen Grund finden, warum er nicht gelingen sollte.