»Nun, nun — laß dir erst einmal einen Augenblick Zeit, um zu Atem zu kommen«, brummte Spinkser, als der Talbewohner über seine Worte stolperte. »Setz dich hier ans Becken.«
Er lehnte Jair gegen die Steinmauer und kniete neben ihm. Der Junge aus dem Tal schaute hoch. »Spinkser, ich war drunten im Maelmord — oder zumindest ein Teil von mir. Ich habe den dritten Zauber angewendet — den der König vom Silberfluß mir geschenkt hat, um Brin zu helfen. Er trug mich ins Licht und dann aus mir heraus — als ob ich aus zwei Persönlichkeiten bestünde. Ich fuhr in die Grube hinab, in der der Sehkristall mir Brin gezeigt hatte. Sie befand sich dort in einem Turm und hielt den Ildatch. Aber der hatte sie verändert, Spinkser. Sie war zu etwas... Schrecklichem geworden...«
»Ganz ruhig, Junge. Ganz langsam erst mal.« Der Gnom sah ihm in die Augen. »Hast du ihr denn helfen können?«
Jair nickte und schluckte dabei. »Sie war völlig verändert, doch ich wußte, wenn ich sie erreichen und berühren könnte und sie mich ebenfalls — dann würde alles gut. Ich benutzte das Wünschlied, ihr zu zeigen, wer sie war und was sie mir bedeutete... um ihr klarzumachen, daß ich sie liebte!« Er kämpfte gegen seine Tränen an. »Dann hat sie den Ildatch zerstört — sie hat ihn in Staub verwandelt! Doch als sie das tat, begann der Turm einzustürzen, und irgend etwas geschah mit der Magie. Ich konnte nicht bei ihr bleiben. Und ich konnte sie auch nicht mitbringen. Ich habe es versucht, aber es ging alles so schnell. Ich schaffte es nicht einmal, ihr zu sagen, was geschah! Sie... verschwand einfach, und ich war wieder hier oben...«
Er ließ den Kopf zwischen die Knie sinken und schluchzte. Spinkser umfaßte mit rauhen, knorrigen Händen seine Schultern und drückte sie.
»Du hast das Beste für sie getan, was du konntest, Junge. Du hast alles getan, wozu du in der Lage warst. Du darfst dir keinen Vorwurf machen, daß du nicht mehr geschafft hast.« Er schüttelte seinen schrumpeligen Kopf. »Gütige Geister, ich kann gar nicht glauben, daß du noch am Leben bist! Ich fürchtete, die Magie hätte dich umgebracht. Ich dachte nicht, daß ich dich noch einmal wiedersehen würde!«
Dann drückte er Jair impulsiv an sich und flüsterte: »Du hast mehr Mumm als ich, Junge — entschieden mehr!«
Dann wich er zurück, weil ihm sein Verhalten peinlich war, und murmelte etwas, daß man in diesem Chaos schon nicht mehr richtig wußte, was man tat. Er wollte noch etwas sagen, als die Beben begannen — eine Reihe tiefer, schwerer Erschütterungen, die den Berg bis in sein Innerstes aufwühlten.
»Was geschieht jetzt?« rief er aus und blickte über seine Schulter hinweg in die Schatten, die den Gang verhüllten, der sie hereingeführt hatte.
»Das ist der Maelmord«, erklärte Jair sogleich und rappelte sich schnell wieder hoch. Die Wunde an seiner Schulter stach und schmerzte, als er sich am Beckenrand aufrichtete, und er faßte nach dem Gnomen, um sich aufzustützen. »Spinkser, wir müssen zurück, Brin holen. Sie ist allein dort unten. Wir müssen ihr helfen.«
Der Gnom schenkte ihm daraufhin ein knappes, verbissenes Lächeln. »Natürlich machen wir das, Junge. Du und ich. Wir gehen hier raus. Wir steigen hinunter in den Höllenschlund und werden sie suchen. So, nun leg deinen Arm um meine Schultern und halte dich fest.«
Und so klammerte Jair sich fest an den Gnomen, als der ihren Weg durch die Höhle zu der Treppe, die sie hierhergebracht hatte, zurückverfolgte. Die Abenddämmerung war über das Land hereingebrochen, die Sonne glitt hinter den Gebirgsrand. Schmale Strahlen schwindenden Lichts fielen durch Spalten im Fels und mischten sich ins Zwielicht der Schatten, als die beiden Gefährten unerschütterlich weiterstolperten. Die Beben hielten an, langsam und stetig, um sie eindringlich daran zu erinnern, daß ihnen nicht viel Zeit blieb. Rund um sie her polterten Steinbrocken und Dreck herab und wirbelten Staub auf, der wie Nebel in der stillen Abendluft hing. In der Ferne ertönte gedämpftes Donnern wie von einem aufziehenden Gewitter.
Dann brachten sie die Höhle hinter sich und traten aus dem dunklen Eingang auf das Sims, das zum Croagh hinabführte. Im Osten erstrahlten schon der Mond und vereinzelt Sterne am samtenen Himmel. Schatten warfen kunstvolle Muster an die Felswand und schlössen sich um die letzten Flecken verlöschenden Lichts, wie Tintenkleckse sich auf neuem Papier ausbreiteten.
Inmitten von Schatten und Halblicht lag Garet Jax.
Völlig fassungslos traten Jair und Spinkser hinzu. Der Waffenmeister lag mit zerfetzten schwarzen Gewändern und blutverschmiert an ein paar Felsbrocken gelehnt und hielt das schlanke Schwert noch mit einer Hand umklammert. Er hatte die Augen geschlossen, als ob er schliefe. Zögernd kniete Spinkser neben ihn.
»Ist er tot?« flüsterte Jair und konnte sich kaum überwinden, die Worte auszusprechen.
Der Gnom beugte sich einen Augenblick vor und wich wieder zurück. Er nickte langsam. »Ja, Junge — er ist tot. Er hat endlich etwas gefunden, das es schaffte, ihn umzubringen — etwas, das so gut war wie er.« Aus seiner Stimme klang widerwillige Ungläubigkeit. »Er hat lange und angestrengt genug danach gesucht, wie?«
Jair antwortete nicht. Er dachte an die Male, da der Waffenmeister ihm das Leben gerettet hatte und ihm zu Hilfe gekommen war, wenn kein anderer mehr dazu in der Lage war. Garet Jax, sein Beschützer.
Er hätte gerne geweint, wenn es ihm möglich gewesen wäre, doch er hatte keine Tränen mehr zu vergießen.
Spinkser stand auf und blickte auf die reglose Gestalt hinab. »Ich habe mich immer gefragt, was es letzten Endes sein würde, das ihn umbrächte«, murmelte der Gnom. »Wahrscheinlich mußte es ein Geschöpf der schwarzen Magie sein. Etwas von dieser Welt konnte es nicht sein. Nicht bei ihm.«
Er drehte sich um und ließ ängstlich den Blick umherschweifen. »Was wohl aus dem roten Ding geworden ist?«
Beben erschütterten den Berg, und Donner rollte aus dem Tal herauf. Jair hörte es kaum. »Er hat es vernichtet, Spinkser. Garet Jax hat es vernichtet. Und als der Ildatch zerstört wurde, hat die schwarze Magie es zurückgeholt.«
»So könnte es gewesen sein.«
»Es war so. Das war der Kampf, auf den er sein Leben lang gewartet hat. Er hat ihm alles bedeutet. Er hätte ihn niemals verloren.«
Der Gnom sah ihn scharf an. »Das kannst du nicht mit Sicherheit behaupten, Junge. Du weißt nicht, ob er diesem Ding gewachsen war.«
Jair schaute ihn an und nickte. »Doch, Spinkser. Ich weiß es. Er war allem gewachsen. Er war der Beste.«
Ein langer Augenblick der Stille trat zwischen sie. Dann nickte der Gnom ebenfalls. »Ja, das war er wohl.«
Erneut erschütterten die Beben den Berg aus dem tiefen Gestein heraus. Spinkser faßte nach Jairs Arm und zog ihn sanft fort. »Wir können nicht bleiben, Junge. Wir müssen jetzt deine Schwester suchen.«
Jair betrachtete ein letztes Mal die reglose Gestalt des Waffenmeister und zwang sich dann, den Blick abzuwenden. »Leb wohl, Garet Jax«, flüsterte er.
Gemeinsam eilten Gnom und Talbewohner zur Treppe des Croagh und machten sich an den Abstieg.
Brin lief durch den düsteren, nebligen Dschungel des Maelmord, nachdem sie Turm und Ildatch endlich hinter sich gelassen hatte. Heftige Erschütterungen ließen den Talgrund erbeben und setzten sich bis zu den Berggipfeln ringsum fort. Die schwarze Magie war aus dem Land gewichen, und ohne sie konnte der Maelmord nicht fortbestehen. Das An-und Abschwellen seines Atems und das Zischen, das von seinem unnatürlichen Leben kündete, hatten ausgesetzt.
Wo bin ich? fragte Brin sich wie von Sinnen, während sie ihre Blicke durch das hereinbrechende Dunkel schweifen ließ. Was ist aus dem Croagh geworden?
Sie wußte, daß sie sich hoffnungslos verirrt hatte. Sie hatte sich sogleich verlaufen, als sie den Turm verlassen hatte. Der Einbruch der Nacht legte sich über das ganze Tal, und sie befand sich mitten auf einem Friedhof, wo alle Zeichen wie eins erschienen und kein Weg zu erkennen war. Durch das Gewirr von Ästen und Schlingpflanzen über sich konnte sie den Rand des Gebirges erkennen, das den Talkessel umschloß, doch der Verlauf des Croagh lag in Dunkelheit gehüllt vor dessen Hintergrund. Der Maelmord war zu einem unmöglichen Labyrinth geworden, und sie saß mittendrin gefangen.