Allanon schüttelte voller Zweifel den Kopf. »Vielleicht. Doch selbst dann würde er nur Teile des Kommenden enthüllen, denn die Zukunft steht noch nicht in ihrer Gesamtheit fest und muß deshalb fraglich bleiben. Nur einige Dinge lassen sich vorhersagen. Und selbst sie sind nicht immer verständlich für uns.« Er zuckte mit den Schultern. »Jedenfalls ruft er mich. Er würde das nicht tun, wenn es nicht von großer Bedeutung wäre.«
»Mir gefällt das nicht«, erklärte Rone. »Das bedeutet den Verlust von weiteren drei Tagen — Zeit, die dazu genützt werden könnte, in den Anar vorzustoßen und wieder umzukehren. Die Geister suchen schon nach Euch. Das habt Ihr doch selbst gesagt. Damit gebt Ihr ihnen nur noch mehr Zeit, Euch zu finden — und Brin.«
Der Druide sah ihn aus kalten, harten Augen an. »Ich bringe das Leben des Mädchens nicht unnötig in Gefahr, Prinz von Leah, und auch nicht das deine.«
Der Hochländer erwiderte den Blick Allanons. »Was uns erheblich helfen würde, wäre ein Stück mehr von der Wahrheit, worum es hier eigentlich geht!« keifte er.
»So.« Das Wort war ein leises, schnelles Flüstern, und Allanons große Gestalt schien plötzlich noch weiter zu wachsen. »Welchen Teil der Wahrheit soll ich euch denn enthüllen, Prinz von Leah?«
Rone ließ sich nicht einschüchtern. »Nur soviel, Druide. Ihr zwingt Brin, Euch ins Ostland zu begleiten, weil Ihr nicht über die nötige Macht verfügt, die Sperre zu überwinden, die das Buch der Schwarzen Magie schützt — Ihr, der Ihr der Hüter der Druidengeheimnisse seid, der Ihr genügend Macht besitzt, Schädelträger und Dämonen gleichermaßen zu vernichten! Und doch braucht Ihr sie. Und was hat sie, über das Ihr nicht verfügt? Das Wunschlied. Nicht mehr, nur das. Es hat nicht einmal die Kraft der Elfensteine. Es ist ein Zauberspielzeug, das die Farben von Laub verändern und Blumen zum Erblühen bringen kann! Was für einen Schutz vermag es zu bieten?«
Allanon starrte ihn einen Augenblick lang schweigend an und lächelte dann ein schwaches, trauriges Lächeln. »Tja, welche Macht besitzt es eigentlich?« murmelte er. Unvermittelt schaute er zu Brin. »Hegst auch du die Zweifel, die der Hochländer da ausgesprochen hat? Möchtest du das Wunschlied besser begreifen? Soll ich euch etwas von seiner Anwendung demonstrieren?«
Er sagte es ziemlich kalt, aber Brin nickte. »Ja.«
Der Druide schritt an ihr vorüber, ergriff die Zügel seines Pferdes und stieg auf. »Dann komm, und ich werde es dir zeigen, Mädchen aus dem Tal«, forderte er sie auf.
Sie ritten schweigend nordwärts am Mermidon entlang, folgten dem gewundenen Weg durch das steinige Waldland, wo das Licht des Sonnenaufgangs zu ihrer Linken durch die Bäume brach und zu ihrer Rechten der Schatten des Runne-Gebirges eine düstere Mauer bildete. So ging es über eine Stunde in verbissener, schweigsamer Prozession dahin. Dann endlich gab der Druide Zeichen anzuhalten, und sie stiegen ab.
»Laßt die Pferde stehen!« wies er sie an.
Sie strebten zu Fuß in westlicher Richtung dem Wald zu, wo der Druide das Talmädchen und den Hochländer über einen Kamm und in eine dicht bewaldete Senke führte. Nachdem sie einige Minuten lang sich ihren Weg durchs dichte Unterholz gebahnt hatten, blieb Allanon stehen und drehte sich um.
»Nun denn, Brin.« Er deutete vor sich in einen Busch. »Stell dir vor, diese Senke wäre die Sperre aus schwarzer Magie, welche du passieren mußt. Wie würdest du das Wunschlied einsetzen, um dir den Durchgang zu ermöglichen?«
Sie schaute sich unsicher um. »Ich weiß nicht recht...«
»Nicht recht?« Er schüttelte den Kopf. »Überlege mal, wie du den Zauber bislang genutzt hast. Hast du ihn eingesetzt, wie der Prinz von Leah behauptet, um das Laub Herbstfärbung annehmen zu lassen? Um Blumen zum Blühen, Blätter zum Knospen und Pflanzen zum Wachsen zu bringen?« Sie nickte. »Demnach hast du dich seiner bedient, um Farben, Formen und Verhalten zu verändern. Mach nun das gleiche. Veranlasse das Gestrüpp, sich für dich zu teilen.«
Sie schaute ihn einen Augenblick lang an und nickte dann. Das war mehr, als sie sich selbst jemals abverlangt hatte, und sie war nicht überzeugt, daß sie die Kraft dazu besaß. Außerdem war es schon lange her, seit sie den Zauber angewendet hatte. Aber sie wollte es versuchen. Leise begann sie zu singen. Ihre Stimme war tief und gleichmäßig, das Lied mischte sich in die anderen Geräusche des Waldes. Dann nahm es eine andere Höhe an und stieg höher, bis alles andere daneben verstummte. Es kamen ungeübt, spontan und irgendwie intuitiv erfühlte Worte, als sie die Hände nach den Sträuchern ausstreckte, die ihr den Durchgang versperrten. Langsam wich das Gewirr, und Blätter und Zweige zogen sich in kräuselnden Streifen satten Grüns zurück.
Einen Augenblick später lag der Weg zur Mitte der Mulde offen vor ihr.
»Ziemlich einfach, findest du nicht?« Aber der Druide stellte eigentlich gar keine Frage. »Sehen wir doch einmal, wohin uns dein Weg führt.«
Er setzte sich mit dicht um sich geschlungenen, schwarzen Gewändern in Bewegung. Brin warf Rone einen raschen Blick zu, der mit den Schultern zuckte, um anzudeuten, daß er nicht verstand. Sie folgten dem Druiden. Sekunden später blieb er wieder stehen, deutete diesmal auf eine Ulme, deren Stamm gebeugt und gedrungen im Schatten einer höheren, breiteren Eiche stand. Die Zweige der Ulme waren mit jenen der Eiche verwachsen und wanden sich höher im zwecklosen Versuch, zum Sonnenlicht durchzubrechen.
»Das ist nun eine schwierigere Aufgabe, Brin«, sagte Allanon plötzlich. »Dieser Ulme ginge es entschieden besser, wenn die Sonne bis zu ihr vordränge. Ich möchte, daß du sie aufrichtest, sie in die Höhe ziehst und ihre Äste aus der Eiche entwirrst.«
Brin betrachtete voller Zweifel die beiden Bäume. Sie schienen zu dicht ineinander geschlungen. »Ich glaube nicht, daß ich dazu in der Lage bin«, antwortete sie ihm ruhig.
»Versuch es.«
»So stark ist der Zauber nicht...«
»Versuch es trotzdem«, fiel er ihr ins Wort.
Also sang sie, und das Wunschlied umhüllte alle anderen Geräusche des Waldes, bis nichts anderes mehr existierte und stieg hell in die Morgenluft empor. Die Ulme bebte, ihre Äste ächzten zur Antwort. Brin sang schriller, als sie den Widerstand des Baumes fühlte, und die Worte klangen schärfer. Der untersetzte Ulmenstamm wich von der Eiche zurück und seine Äste scharrten und kratzten, und Blätter wurden von ihren Stengeln gerissen.
Dann schob sich plötzlich der gesamte Baum mit erschreckender Plötzlichkeit in die Höhe und explodierte in einem Schauer losgelöster Äste, Zweige und Blätter, die über die ganze Senke niederregneten. Fassungslos taumelte Brin rückwärts, hielt schützend die Hände vors Gesicht, und das Wunschlied verstummte zu unvermittelter Stille. Hätte Allanon sie nicht an den Armen ergriffen und sie schützend gehalten, bis der Schauer vorbei war, wäre sie gestürzt. Dann drehte er sie zu sich um.
»Was ist passiert...?« begann sie, aber er legte schnell einen Finger auf ihre Lippen.
»Macht, Talmädchen«, flüsterte er. »Macht in deinem Wunschlied, die bei weitem das übersteigt, was du dir vorgestellt hast. Diese Ulme vermochte sich nicht aus der Eiche zu lösen. Ihre Äste waren viel zu stark, viel zu schwer in die des anderen Baumes verflochten. Und doch konnte sie deinem Lied nicht widerstehen. Sie hatte keine andere Wahl, als sich zu befreien — auch wenn das ihre eigene Zerstörung bedeutete.«
»Allanon!« Sie schüttelte ungläubig den Kopf.
»Du besitzt diese Macht, Brin Ohmsford. Und wie alle magischen Dinge, beinhaltet sie eine helle und eine dunkle Seite.« Das Gesicht des Druiden rückte näher. »Du hast Spielereien betrieben, um die Farben von Blättern zu verändern. Bedenke, was geschähe, wenn du die jahreszeitliche Veränderung, die du bewirkt hast, bis zu ihrem logischen Schluß geführt hättest. Der Baum wäre von Herbst zu Winter, von Winter zu Frühling, von einer Jahreszeit zur nächsten übergegangen. Schließlich hätte der Baum seinen Lebenszyklus durchlaufen und wäre gestorben.«