Er seufzte. Irgendwie spielte es schon eine Rolle. Selbst einem Gnomen gegenüber war sein Wort sein Wort, und es besagte etwas, wenn er es gab. Jemandes Wort war eine Ehrensache. Es ließ sich nicht an günstige Gegebenheiten binden oder an- und ablegen wie Kleider, um sich Wetterumschlägen anzupassen. Falls er es nur einmal revidierte, öffnete das für hinterher einer Flut von Entschuldigungen Tür und Tor.
Außerdem war er sich nicht sicher, daß er das Spinkser hätte antun können, ob der nun ein Gnom war oder nicht. Es war eigentümlich, aber er hatte eine gewisse Anhänglichkeit zu dem Burschen entwickelt. Er hätte es nicht unbedingt als Zuneigung beschrieben. Achtung war eher das zutreffende Wort. Oder vielleicht sah er in dem Gnomen auch nur ein Stück von sich selbst, weil sie beide recht besondere Zeitgenossen waren. Jedenfalls glaubte er, daß er sich nicht dazu hätte überwinden können, Spinkser derartig übers Ohr zu hauen, nicht einmal um dem zu entgehen, was ihn erwarten mochte.
Er trat gegen die Blätter, die über den Weg fegten, als er weiter durch den finsteren Herbsttag schritt. Er vermutete, Rone Leah hätte an seiner Stelle einen Fluchtplan geschmiedet gehabt. Wahrscheinlich einen guten. Aber Jair hatte keine Ahnung, wie der hätte sein können.
Der Morgen verstrich. Mit dem Mittag setzte der Wind aus, doch die von ihm herangetragene Kälte hing noch in der Waldluft. Vor ihnen wurde das Gelände zerklüfteter, die Erde war aufgebrochen und steinig, als die Bergkette nach Süden hin abfiel und eine Reihe von Schluchten sich über ihren Weg spannte. Noch immer dehnte sich die Mauer der Eichen, reglose Giganten, blind gegenüber den Jahrhunderten, die an ihnen vorübergegangen waren. Gleichgültig gegenüber einem unbedeutenden Leben wie dem meinen, dachte Jair, als er an den hoch aufragenden Ungeheuern emporblickte. Sperren mich aus, daß ich nirgendwohin laufen kann.
Der Pfad wand sich eine steile Böschung hinab, und die Patrouille folgte seiner dunklen Spur. Dann wichen die Eichen einem einsamen Bestand von Kiefern und Fichten, die sich zwischen den schwarzen Stämmen dicht zusammendrängten und umstellt waren wie steifgefrorene, eingeschüchterte Gefangene. Die Gnomen schleppten sich mitten hinein und murrten gereizt, als scharfkantige Nadeln sie pikten und kratzten. Jair duckte den Kopf und folgte ihnen, und die langen Nadeln versetzten seinem Gesicht und seinen Händen beißende Peitschenhiebe.
Einen Augenblick später trat er aus dem Ästegewirr und stand auf einer weiten Lichtung. Am Grunde der Schlucht befand sich ein kleiner Teich, der von einem schmalen, aus den Felsen tröpfelnden Bach gespeist wurde.
Ein Mann stand an dem Teich.
Die Gnomen hielten unvermittelt und erschreckt an. Der Mann trank Wasser aus einem Zinnbecher und hielt den Kopf gesenkt. Er war ganz in Schwarz gekleidet: weites Hemd und Hosen, Waldmantel und Stiefel. Neben ihm auf dem Boden lag ein schwarzes Lederbündel. Daneben ruhte ein langer Holzstab. Selbst der Stock war schwarz, aus poliertem Walnußholz. Der Mann schaute kurz zu ihnen empor. Er sah wie ein gewöhnlicher Südländer aus, ein Reisender mit braunem, von Sonne und Wind zerfurchtem Gesicht, und sein helles Haar schimmerte fast silbrig. Kieselgraue Augen blinzelten einmal; dann wandte er den Blick fort. Er mochte einer der hundert Reisenden sein, die diesen Teil des Landes täglich durchwanderten. Doch von dem Augenblick an, da Jair den Mann bemerkt hatte, wußte er, daß er das nicht war.
Auch Spilk spürte, daß an diesem Mann etwas ungewöhnlich war. Der Sedt schaute schnell nach links und rechts zu den Gnomen, als wollte er sich versichern, daß sie neun gegen einen waren, dann blickte er zu Jair hin. Er war eindeutig aufgebracht, daß der Fremde ihren Gefangenen gesehen hatte. Er zögerte noch einen Augenblick, dann ging er weiter. Jair und die anderen folgten ihm.
Wortlos rückte die Patrouille zur anderen Seite des Teiches vor, ohne daß sie jemals ein Auge von dem Fremden gelassen hätten. Der beachtete sie gar nicht. Spilk löste sich aus der Gruppe seiner Begleiter, füllte seinen Beutel an dem Rinnsal, das die Felsen herablief, und nahm dann einen tiefen Zug. Einer nach dem anderen taten die anderen Gnomen es ihm nach bis auf Spinkser, der regungslos neben Jair stehenblieb. Der Talbewohner schaute zu dem Gnomen hinüber und stellte fest, daß der den Fremden mit starrem Blick musterte. In dem derben Gesicht zeichnete sich etwas Eigentümliches ab, etwas...
Wiedererkennen?
Plötzlich blickte der Fremde hoch und sah Jair geradewegs an. Seine Augen waren ausdruckslos und nichtssagend. Einen kurzen Moment lang blieben sie auf ihn gerichtet, dann wanderten sie zu Spilk.
»Lange Reise?« erkundigte er sich.
Spilk spie das Wasser aus. »Steckt Eure Nase in Eure eigenen Angelegenheiten.«
Der Fremde zuckte mit den Schultern. Er trank seinen Becher leer und bückte sich dann, um ihn in seinem Gepäck zu verstauen. Danach richtete er sich wieder auf, den schwarzen Stock hielt er nun in der Hand.
»Ist der Talbewohner denn wirklich so gefährlich?«
Die Gnomen gafften ihn alle trotzig an. Spilk warf seinen Wasserbeutel von sich, schloß die Faust um seinen Knüppel und bog um den Teich, bis er vor seinen Leuten stand.
»Wer seid Ihr?« schnauzte er ihn an.
Wieder zuckte der Fremde mit den Schultern. »Niemand, den Ihr kennenlernen möchtet.«
Spilk lächelte kalt. »Dann verschwindet von hier, solange ihr noch die Möglichkeit habt. Das hier geht Euch nichts an.«
Der Fremde rührte sich nicht. Er schien die Sache abzuwägen.
Spilk machte einen Schritt auf ihn zu. »Ich sagte, das geht Euch nichts an.«
»Neun Gnomenjäger, die nach Süden ziehen mit einem Talbewohner, der gefesselt und geknebelt ist wie ein Spanferkel?« Ein schwaches Lächeln huschte über das wettergegerbte Gesicht des Fremden. »Vielleicht habt Ihr recht. Vielleicht geht es mich wirklich nichts an.«
Er bückte sich, um seinen Tornister aufzuheben, warf ihn sich über und ging an den Gnomen vorüber fort vom Teich. Jair fühlte, wie seine eben erst gekeimten Hoffnungen wieder zerrannen. Einen Augenblick lang hatte er geglaubt, der Fremde wollte ihm helfen. Er wandte sich wieder zum Teich, weil er trinken wollte, aber Spinkser stellte sich ihm in den Weg. Die Augen des Gnomen ruhten noch auf dem Fremden, und nun hob er langsam die Hand, faßte nach Jairs Schulter und führte ihn ein paar Schritte von den anderen Gnomen der Patrouille fort.
Der Fremde war wieder stehengeblieben.
»Andererseits täuscht Ihr Euch vielleicht.« Er stand nun keine zwei Meter von Spilk entfernt. »Vielleicht geht mich das doch etwas an.« Das Bündel des Fremden rutschte von seiner Schulter zu Boden, und seine kieselgrauen Augen waren auf Spilk geheftet. Der Sedt starrte ihn an, und auf seinem groben Gesicht spiegelten sich Ungläubigkeit und Wut. Die anderen Gnomen warfen einander hinter seinem Rücken unbehagliche Blicke zu.
»Bleib hinter mir.« Spinksers Stimme drang als leises Zischen an sein Ohr, und der Gnom stellte sich vor ihn.
Der Fremde trat näher auf Spilk zu. »Warum läßt du den Mann aus dem Tal nicht seiner Wege ziehen?« erkundigte er sich freundlich.
Spilk schwang seine schwere Keule nach dem Kopf des Fremden. Doch so schnell er war, der Fremde war schneller und wehrte den Hieb mit seinem Stock ab. Dann sprang er nach vorn mit einer geschmeidigen, mühelosen Bewegung. Der Stab fuhr hoch und schlug einmal, zweimal zu. Der erste Schlag traf den Sedt in die Magengrube, daß er vornüberkippte. Der zweite erwischte ihn voll über den Schädel und ließ ihn wie einen Stein zu Boden stürzen.
Einen Augenblick lang rührte sich niemand. Dann griffen die anderen Gnomen mit einem wütenden Aufschrei an, rissen Schwerter aus den Scheiden und schwenkten Äxte und Speere. Mit sieben Mann stürzten sie sich auf die einzelne schwarze Gestalt. Jair biß auf den Knebel, der ihn sprachlos machte, als er sah, was als nächstes geschah. Mit katzenhafter Behendigkeit wehrte der Fremde den Angriff ab, wobei sein Stock nur so herumwirbelte. Zwei weitere Gnomen fielen mit zerschmettertem Schädel zu Boden. Der Rest hieb und stach blindlings in die Gegend, als der Fremde davontänzelte. Hinter seinem Mantel blitzte etwas Metallisches auf, und seine Hand umklammerte ein kurzes Schwert. Sekunden später lagen drei weitere Angreifer ausgestreckt am Boden, und ihr Blut strömte von hinnen.