Nach einer Zeit war sogar die Furcht von ihm abgefallen, und die Gefahr einer Verfolgung schien nicht mehr so unmittelbar. Es kam ihm vor, als hätte er sogar beim Gehen geschlafen, denn er konnte sich an nichts erinnern. Und doch hatten sie nicht geschlafen, wie er wußte. Sie waren nur endlos gelaufen...
Eine Hand riß ihn vom Rande des Sumpfs zurück, als er zu nahe vorbeitaumelte. »Paß auf, wohin du trittst, Taljunge.« Garet Jax ging neben ihm.
Er murmelte etwas in Erwiderung und wankte weiter. »Er ist tot vor Erschöpfung, aber bleibt auf den Beinen«, hörte er Spinkser knurren, doch es kam keine Antwort. Er rieb sich die Augen.
Spinkser hatte recht. Er war fast am Ende seiner Kräfte. Er konnte nicht viel länger mehr durchhalten.
Und doch tat er es. Er ging noch Stunden, wie es schien, schleppte sich durch den Nebel und das graue Zwielicht, stolperte blindlings hinter Spinksers untersetzter Gestalt her und war sich der schweigsamen Gegenwart von Garet Jax neben sich kaum bewußt. Alles Zeitgefühl war aus ihm gewichen. Er wußte nur noch, daß er auf den Beinen war und sich weiter quälte. Ein Schritt folgte auf den ändern, ein Fuß dem anderen und jedesmal war es eine weitere, neue Anstrengung. Und der Weg nahm kein Ende.
Bis...
»Verdammter Mist!« murmelte Spinkser, und plötzlich schien der ganze Sumpf nach oben aufzubrechen. Wasser und Schleim schössen in die Höhe und regneten auf den entsetzen Talbewohner hernieder. Ein Brüllen zerriß die Stille des Tagesanbruchs, ein heiserer, durchdringender Schrei, und etwas Riesenhaftes ragte fast direkt vor Jair empor.
»Ein Sumpfhäusler!« hörte er Spinkser schreien.
Jair taumelte rückwärts und war völlig verwirrt und zu Tode erschreckt angesichts des massigen Dings, das sich da vor ihm erhob, und sah nur noch einen schuppigen, morasttriefenden Körper, einen Kopf, der lediglich aus einem weit aufgerissenen, zähnefletschenden Maul zu bestehen schien, und die vorgereckten, krallenbewehrten Vorderpfoten. Er stolperte nun wie von Sinnen zurück, aber seine Beine wollten ihn nicht mehr tragen, sie waren vor Erschöpfung zu taub, um angemessen zu reagieren. Das riesenhafte Geschöpf stürzte sich auf ihn, sein Schatten verdunkelte sogar das Halblicht, und sein Atem stank roh und faulig.
Dann stieß ihn etwas in die Seite, so daß er umfiel und aus der Reichweite der Klauen des Ungeheuers rollte. Völlig benommen gewahrte er Spinkser an seinem vorherigen Platz stehen, der das gezückte Kurzschwert wild nach dem riesigen Untier schwenkte, das da auf ihn herabstieß. Doch das Schwert war eine jämmerlich unzulässige Waffe. Das Monster schlug sie fort, daß sie in hohem Bogen aus der Hand des Gnomen flog. Im nächsten Augenblick schloß sich eine große Krallenklaue um Spinksers Leib.
»Spinkser!« kreischte Jair und versuchte sich hochzurappeln.
Garet Jax handelte schon. Er sprang als verschwommener Schatten hinzu, stieß seinen schwarzen Stock in das aufgerissene Maul des Geschöpfs und rammte ihn tief in das weiche Gewebe des Schlundes. Der Sumpfhäusler brüllte vor Schmerz, die Kiefern klappten über dem Stab zusammen und brachen ihn in Stücke. Die Klauenhände griffen nach den Splittern in seinem Maul und ließen Spinkser zu Boden fallen.
Wieder tat Garet Jax einen Sprung auf das Ungeheuer zu, diesmal mit gezücktem Kurzschwert. Er stand so rasch auf der Schulter des Untiers, außer Reichweite der fuchtelnden Klauen, daß Jair ihm gar nicht recht mit Blicken folgen konnte. Er grub sein Schwert tief in die Kehle des Sumpfhäuslers. Dunkles Blut schoß hervor. Dann sprang er rasch ab. Der Sumpfhäusler war nun verletzt und litt, wie sein Gebrüll hören ließ, unter Schmerzen. Er machte ruckartig kehrt und taumelte blindlings zurück in Nebel und Dunkelheit.
Spinkser rappelte sich benommen und fassungslos hoch, Garet Jax dagegen trat zu Jair und zerrte ihn schnell auf die Beine. Der Talbewohner hatte die Augen weit aufgerissen und gaffte den Waffenmeister voller Ehrfurcht an.
»Noch nie... noch nie habe ich jemanden... sich so schnell bewegen sehen!« stammelte er.
Garet Jax achtete nicht darauf. Mit fest um seinen Kragen geschlossener Hand zerrte er den Talbewohner in den Wald, und Spinkser huschte schnell hinterdrein.
Innerhalb von Sekunden hatten sie die Lichtung hinter sich gelassen. Rote Feuer loderten um den Druiden, hüllten ihn in karmesinzüngelnde Flammen und flackerten unheilvoll vor dem Hintergrund des ersten, grauen Tageslichts. Benommen und halb geblendet von der Explosion rappelte Brin sich auf die Knie hoch und beschirmte mit der Hand ihre Augen. Inmitten des Feuers hockte der Druide im glitzernden, schwarzen Gestein des Talbodens, und eine schwache, blaue Aura hielt die Flammen zurück, die ihn umschlossen. Ein Schild, so begriff Brin, sein Schutz gegen den Horror, der ihn vernichten würde.
Verzweifelt sah sie sich nach dem Verursacher dieses Grauens um und entdeckte ihn in nicht zwanzig Metern Entfernung. Dort stand finster vor dem schwachen Gold der Sonne, die sich gerade über den Horizont schob, eine hohe, schwarz umrissene Gestalt mit erhobenen und vorgereckten Armen, aus denen rotes Feuer sprühte. Ein Mordgeist. Sie wußte auf der Stelle, was das war. Er war lautlos über sie gekommen, hatte sie in ihrer Arglosigkeit erwischt und den Druiden niedergerungen. Allanon hatte keine Chance sich zu verteidigen und lebte nun nur noch dank seines Instinkts.
Brin sprang auf die Beine. Sie kreischte wie von Sinnen das schwarze Wesen an, das ihn angriff, doch der Geist rührte sich nicht, und das Feuer hielt unvermindert an. In beständigem, unablässigem Strom schoß es von seinen ausgestreckten Händen zu der Stelle, wo der Druide hockte, loderte rings um seinen zusammengekauerten Körper und hämmerte auf das schwache blaue Schild ein, das es noch zurückhielt! Karmesinrotes Licht waberte und wurde von der Spiegeloberfläche des Talgesteins himmelwärts reflektiert, und die ganze, von den Felswänden eingekesselte Welt schien wie in Blut getaucht.
Dann stürzte Rone Leah nach vorn, sprang vor Brin und blieb wie ein geducktes Tier stehen.
»Teufel!« heulte er voller Wut.
Er schwenkte die schwarze Metallklinge des Schwertes von Leah und dachte in diesem Augenblick nicht im geringsten darüber nach, wem er hier half oder um wessentwillen er sein eigenes Leben bereitwillig aufs Spiel setzte. In diesem Augenblick war er der Urenkel von Menion Leah, so schnell und verwegen wie sein Ahne gewesen sein sollte, und der Instinkt dominierte über seinen Verstand. Er stieß den Schlachtruf seiner Vorfahren aus längst vergangenen Jahrhunderten aus und ging zum Angriff über.
»Leah! Leah!«
Er sprang ins Feuer, das Schwert sauste nieder und zerschlug den Ring, der Allanon einschloß. Sogleich barsten die Flammen, als wären sie aus Glas und fielen vor der niedergekauerten Gestalt des Druiden in Scherben zu Boden. Das Feuer schoß noch immer von den Händen des Mordgeistes; doch wie Eisen von einem Magneten wurde es nun von der Klinge angezogen, die der rothaarige Hochländer führte. Es wallte im wilden Bogen zu dem schwarzen Metall und brannte an ihm herunter. Und doch berührte kein Feuer Rones Hand; es war, als absorbierte es das Schwert. Der Prinz von Leah stand hoch aufgerichtet zwischen Geist und Druiden, das Schwert von Leah senkrecht vor sich, von dessen Klinge das karmesinrote Feuer absprang.
Allanon erhob sich ebenso schwarz und bedrohlich wie das Wesen, das ihn aufgespürt hatte, und war nun von den Flammen befreit, die ihn umschlossen hatten. Magere Arme hoben sich aus den Gewändern heraus, blaues Feuer sprang hervor. Es traf den Mordgeist, riß ihn von den Füßen und schleuderte ihn zurück, als wäre er von einem Rammbock getroffen.
Schwarze Gewänder blähten sich, und ein entsetzliches, lautloses Kreischen hallte in Brins Gehirn wider. Noch einmal flammte das Feuer des Druiden auf, und einen Augenblick später war das schwarze Ding, auf das es gerichtet war, zu Staub zerfallen.
Das Feuer erlosch zu dahinziehenden Rauchfahnen und zerstreuter Asche, und Stille erfüllte das Schiefer-Tal. Das Schwert von Leah sank herab, und das schwarze Eisen klirrte deutlich auf dem Gestein, als es schließlich zu Boden fiel. Rone Leah neigte den Kopf; ein verwunderter Ausdruck stand in seinen Augen, als sein Blick Brin suchte. Sie kam zu ihm gelaufen, schlang die Arme um ihn und drückte ihn an sich.