»Nach Osten. Wohin sonst sollte eine Gnomenpatrouille einen Gefangenen bringen?«
Jairs Stirnrunzeln vertiefte sich. Das konnte er nicht bestreiten. Und doch erklärte nichts von dem, was der Waffenmeister vorbrachte, warum er sich ursprünglich die Mühe gemacht hatte, Jair zu helfen.
»Ich verstehe immer noch nicht, warum Ihr mir geholfen habt«, beharrte er weiter auf seiner Frage.
Ein schwaches Lächeln huschte über das Gesicht des anderen. »Du hast wohl den Eindruck, daß ich nicht gerade einen besonders menschenfreundlichen Charakter habe, wie?«
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Das war auch nicht nötig. Abgesehen davon hast du recht, das habe ich auch nicht.«
Jair zögerte und blickte ihn erstaunt an.
»Ich sagte, das habe ich nicht«, wiederholte Garet Jax. Das Lächeln war erloschen. »Sonst bliebe ich nicht lange am Leben. Und am Leben bleiben ist das, was ich am besten kann.«
Es trat eine lange Pause ein. Jair wußte nicht, wohin er das Gespräch hätte lenken sollen. Der Waffenmeister beugte sich nach vorn in die Wärme des Feuers.
»Aber du interessierst mich«, fuhr er dann langsam fort. Sein Blick wanderte zu Jair. »Wahrscheinlich habe ich dich deshalb gerettet. Du interessierst mich, und das kann ich nur noch von wenigen Dingen behaupten...«
Er verstummte, sein Blick war in die Ferne gerichtet. Doch einen Augenblick später musterte er wieder Jair. »Da warst du gefesselt und geknebelt unter der Bewachung einer ganzen bis an die Zähne bewaffneten Gnomenpatrouille. Sehr seltsam. Sie hatten Angst vor dir. Das reizte mich. Ich wollte wissen, was an dir ihnen solche Furcht einflößte.«
Er zuckte mit den Schultern. »Also dachte ich, es wäre der Mühe wert, dich zu befreien.«
Jair starrte ihn an. Neugier. Deshalb sollte Garet Jax ihm zu Hilfe geeilt sein — aus Neugier? Nein, dachte er sofort, es mußte mehr dahinterstecken.
»Sie hatten Angst vor der Zauberei«, sagte er unvermittelt. »Möchtet Ihr sehen, wie sie funktioniert?«
Garet Jax schaute wieder ins Feuer. »Vielleicht später. Die Reise ist noch nicht zu Ende.« Er wirkte völlig desinteressiert.
»Bringt Ihr mich deshalb nach Culhaven?« fragte Jair beharrlich weiter.
»Zum Teil.«
Er ließ die Worte ohne weitere Erläuterung stehen. Jair schaute voller Unbehagen zu ihm hinüber.
»Und warum noch?«
Der Waffenmeister antwortete nicht. Er blickte den Talbewohner nicht einmal an. Er lehnte sich nur an den umgestürzten Baumstamm zurück, hüllte sich in seinen schwarzen Reisemantel und beobachtete das Feuer.
Jair versuchte, anders Zugang zu ihm zu finden. »Was ist mit Spinkser? Warum habt Ihr ihm geholfen? Ihr hättet ihn ja dem Sumpfhäusler überlassen können.«
Garet Jax seufzte. »Das hätte ich. Hätte dich das irgendwie glücklicher gemacht?«
»Natürlich nicht. Warum meint Ihr?«
»Du scheinst von mir eine Meinung gefaßt zu haben, als täte ich niemals etwas für einen anderen ohne die Aussicht auf persönlichen Nutzen. Du solltest nicht alles glauben, was du hörst. Du bist jung, aber nicht dumm.«
Jair errötete. »Nun, Ihr mögt Spinkser nicht besonders, oder?«
»Ich kenne ihn nicht ausreichend, um ihn zu mögen oder nicht zu mögen«, erwiderte der andere. »Ich muß zugeben, daß ich im allgemeinen Gnomen nicht sonderlich zugetan bin. Aber dieser war zweimal bereit, sich um deinetwillen in Gefahr zu bringen. Das macht es wert, ihn zu retten.«
Er schaute plötzlich herüber. »Außerdem magst du ihn doch und möchtest nicht, daß ihm etwas zustößt. Habe ich recht?«
»Ihr habt recht.«
»Nun, das alleine wirkt doch schon ziemlich eigentümlich, findest du nicht? Wie ich vorhin schon sagte, du interessierst mich.«
Jair nickte nachdenklich. »Ihr interessiert mich auch.«
Garet Jax wandte sich ab. »Gut. Dann haben wir beide auf dem Weg nach Culhaven genügend Stoff zum Nachdenken.«
Er ließ das Thema auf sich beruhen, und Jair hielt es ebenso. Der Talbewohner war nicht im geringsten soweit zufrieden, daß er begriffen hätte, was den Waffenmeister veranlaßt hatte, Spinkser oder ihm selbst zu helfen, aber es war nicht zu übersehen, daß er an diesem Abend nichts mehr erfahren sollte. Garet Jax stellte ein Rätsel dar, das nicht leicht zu lösen sein sollte.
Inzwischen war das Feuer fast ganz niedergebrannt, was Jair wieder daran erinnerte, daß Spinkser zum Holzsammeln gegangen und noch nicht wiedergekommen war. Er überlegte eine Weile, ob er diesbezüglich etwas unternehmen sollte oder nicht, dann wandte er sich wieder an Garet Jax.
»Ihr glaubt doch nicht, daß Spinkser etwas zugestoßen sein könnte, oder?« fragte er. »Er ist nun schon eine ganze Weile fort.«
Der Waffenmeister schüttelte den Kopf. »Der kann auf sich selbst aufpassen.« Er stand auf, trat nach dem Feuer und zerstreute die Holzkohlen, so daß die Flammen erstarben. »Wir brauchen das Feuer ohnehin nicht mehr.«
Er kehrte zu der Stelle bei dem umgestürzten Baumstamm zurück, rollte sich in seinen Reisemantel und schlief innerhalb von Sekunden. Jair blieb eine Weile still liegen, lauschte auf das schwere Atmen des Mannes und starrte ins Dunkel. Schließlich wickelte auch er sich in seinen Umhang und legte sich zurecht. Er war immer noch etwas besorgt wegen Spinkser, aber wahrscheinlich hatte Garet Jax recht, wenn er der Ansicht war, der Gnom könnte auf sich selbst aufpassen. Außerdem war Jair plötzlich schläfrig geworden. Er sog tief die warme Nachtluft ein und ließ die Augen zufallen. Einen Augenblick lang wanderten seine Gedanken ziellos umher, und er dachte unwillkürlich an Brin, Rone und Allanon und fragte sich, wo sie inzwischen wohl sein mochten.
Dann zerstreuten sich diese Gedanken, und er war eingeschlafen.
Auf einer Anhöhe mit Blick über den Silberfluß dachte auch Spinkser im Schatten einer alten Weide nach. Er glaubte, daß es Zeit wäre, weiterzuziehen. Er war bis hierher mitgekommen, weil dieser verdammte Bengel ihn dazu gebracht hatte. Man mußte sich einmal vorstellen: Wollte ihn bestechen, dieser Junge, als ob er sich herabließe, von Jungen Schmiergelder anzunehmen! Wahrscheinlich war es trotzdem gut gemeint, dachte er. Das Verlangen des Jungen nach seiner Begleitung war aufrichtig gewesen. Und er mochte den Jungen ziemlich gern. Er war ein recht zähes Bürschchen.
Der Gnom zog seine Knie an die Brust hoch und schlang nachdenklich die Arme darum. Trotzdem war das hier ein törichtes Unterfangen. Er marschierte geradewegs ins feindliche Lager. Oh, die Zwerge waren natürlich nicht seine persönlichen Feinde. Er scherte sich um die Zwerge keinen Deut, weder im Positiven noch im Negativen. Aber gerade jetzt befanden sie sich im Krieg mit den Gnomenstämmen, und er bezweifelte, daß seine Empfindungen ihnen gegenüber da eine große Rolle spielen würden. Es würde genügen, daß er ein Gnom war.
Er schüttelte den Kopf. Das Risiko war einfach zu groß. Und das alles für den Jungen, der wahrscheinlich von einem Tag auf den nächsten nicht mehr wußte, was er eigentlich wollte. Außerdem hatte er gesagt, daß er ihn nur bis zur Grenze vom Anar bringen würde, und dort befanden sie sich schon fast. Gegen Abend des kommenden Tages würden sie vermutlich die Wälder erreichen. Er hatte seinen Teil der Abmachung eingehalten.
So. Er atmete tief ein und stemmte sich in die Höhe. Zeit, weiterzuziehen. So hatte er sein ganzes Leben verbracht — wie Fährtensucher nun einmal waren. Der Junge mochte sich zuerst vielleicht aufregen, aber er würde darüber hinwegkommen. Und Spinkser bezweifelte, daß er in große Gefahr käme, da Garet Jax auf ihn aufpaßte. Tatsache war, daß es für den Jungen auf diese Art vermutlich besser war.
Er schüttelte gereizt den Kopf. Es gab keinen Grund, Jair einen Jungen zu nennen. Er war älter als der Gnom gewesen war, als er von zu Hause weggegangen war. Jair konnte für sich selbst sorgen, wenn es sein mußte. Er brauchte im Grunde genommen weder Spinkser, noch den Waffenmeister, noch sonst jemanden. Nicht solange er die Zauberkraft besaß, die ihn schützte.
Spinkser zögerte noch einen Augenblick und dachte das Ganze noch einmal durch. Er würde so natürlich nichts von der Zauberei erfahren — das war schon ein Jammer. Die Zauberei reizte ihn, die Art, wie der Junge durch seine Stimme... Nein, sein Entschluß stand fest. Ein Gnom im Ostland hatte nirgendwo in der Nähe von Zwergen etwas zu schaffen. Der war am besten bei seinem eigenen Volk aufgehoben. Und jetzt blieb ihm nicht einmal mehr diese Möglichkeit. Es wäre das einzig Richtige, sich zum Lager zurückzuschleichen, sein Gepäck zu holen, den Fluß zu überschreiten und sich nach Norden in die Grenzgebiete zu begeben.