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Er zog die Stirn kraus. Vielleicht lag es nur daran, daß der Talbewohner noch wie ein Junge aussah...

Spinkser, nun raffe dich schon auf!

Er machte schnell kehrt und verschwand in der Nacht.

Träume durchzogen Jair Ohmsfords Schlaf. Er ritt zu Pferd über Hügel und Weideland, durch tiefe, dunkle Wälder, und der Wind heulte in seinen Ohren. Brin war neben ihm, und ihr nachtschwarzes Haar wehte unmöglich lang. Sie sprachen kein Wort beim Reiten, doch jeder kannte die Gedanken des anderen und lebte im Innern des anderen. Und sie jagten immer weiter, kamen durch Länder, die sie noch niemals gesehen hatten, aufregende, weite, wilde Länder. Rund um sie her lauerten Gefahren: Ein gewaltiger, nach Morast stinkender Sumpfhäusler, Gnomen, deren gelbe Gesichter von ihren bösen Absichten gezeichnet waren, Mordgeister, nicht mehr als gespenstische, konturlose, unheimliche Formen, die sich aus der Dunkelheit streckten. Da waren noch andere — gestaltlose, monströse Wesen, die man nicht sehen, nur fühlen konnte, und das Gefühl ihrer Präsenz war schrecklicher, als jedes Gesicht es hätte sein können. Diese Ausgeburten des Bösen griffen nach ihnen mit wild rudernden Klauen und gefletschten Zähnen und Augen, die wie Kohlen in schwärzester Nacht glühten. Diese Wesen wollten Jair und seine Schwester von ihren Reittieren zerren und sie zerreißen. Doch sie waren stets zu langsam, einen Augenblick zu spät, um ihr Ziel zu erreichen, so schnell trugen die Pferde Jair und Brin aus ihrer Reichweite.

Doch die Jagd ging weiter. Sie hörte nicht auf, wie eine Verfolgung zu Ende gehen sollte. Sie hielt einfach an, eine endlose Jagd durch eine Landschaft, die bis zum Horizont reichte. Obgleich die Geschöpfe, die hinter ihnen her waren, sie niemals ganz einholten, lauerten immer neue weiter vorne auf sie. Zuerst war das Paar in Hochstimmung. Sie waren ungezügelt und frei, nichts konnte ihnen etwas anhaben, Bruder und Schwester waren allen gewachsen, die sie in die Tiefe zerren wollten. Doch nach einiger Zeit trat eine Veränderung ein. Es war eine allmähliche Veränderung, die wie ein heimtückisches Wesen über sie hinwegkroch, bis sie sich schließlich in ihrem Innern einnistete und sie als das erkannten, was es war. Es hatte keinen Namen. Es flüsterte ihnen zu, was zu geschehen hätte: Sie könnten das Rennen niemals gewinnen, weil die Dinge, vor denen sie flohen, Teil ihrer selbst waren; kein Pferd, wie schnell es auch sein mochte, könnte sie in Sicherheit bringen. Seht euch an, worum es sich handelt, flüsterte die Stimme, und dann sahen sie die Wahrheit.

Flieht! Jair heulte voller Zorn auf und drängte sein Pferd, schneller zu laufen. Doch die Stimme flüsterte weiter, und der Himmel um sie her wurde immer finsterer, die Farben entwichen dem Land, alles wurde grau und tot. Flieht! schrie er. Dann drehte er sich nach Brin um, weil er plötzlich fühlte, daß bei ihr nicht alles in Ordnung war. Vor ihm wurde das Entsetzen lebendig: Brin war verschwunden; sie war überwältigt und verschlungen worden, verschlungen von jenem finsteren Ungeheuer, das da nach ihm griff...

Jair riß die Augen auf. Sein Gesicht war schweißgebadet, seine Kleider unter dem Umhang, in den er gehüllt lag, klebten feucht an seiner Haut. Über ihm leuchteten sanft die Sterne, die Nacht war ruhig und friedlich. Doch der Traum haftete in seinem Denken als lebhaftes, lebendiges Ding.

Dann fiel ihm auf, daß das Feuer wieder hell flackerte, die Flammen prasselten im Dunkeln an neuem Holz. Jemand hatte es neu entfacht.

Spinkser...?

Eilends warf er den Umhang zurück, setzte sich hoch und ließ den Blick suchend umherschweifen. Spinkser war nirgendwo zu sehen. Fünf Meter weiter schlief Garet Jax ungestört. Nichts hatte sich verändert — nichts außer dem Feuer.

Dann trat eine Gestalt aus der Nacht, ein magerer, gebrechlicher alter Mann, dessen gebeugter, betagter Leib in weiße Gewänder gehüllt war. Silbernes Haupt- und Barthaar umrahmten ein verwittertes, freundliches Gesicht, und er stützte sich auf einen Wanderstab. Er lächelte herzlich, als er ins Licht trat und dann stehenblieb.

»Hallo, Jair«, grüßte er.

Der Talbewohner starrte ihn verwundert an. »Hallo.«

»Träume können Visionen von Zukünftigem sein, weißt du. Und Träume können uns warnen, wovor wir uns hüten sollen.«

Jair war sprachlos. Der alte Mann ging im Bogen ums Feuer und bahnte sich vorsichtig seinen Weg, bis er vor dem jungen Mann aus dem Tal stand. Dann ließ er sich behutsam zu Boden sinken, nur ein Hauch von Leben, den ein kräftiger Wind von der Erde fegen würde.

»Kennst du mich wieder, Jair?« fragte der alte Mann, dessen Stimme ein sanftes Murmeln in der Stille war. »Laß es dir von deinem Gedächtnis sagen.«

»Ich weiß nicht...«, wollte Jair antworten, und hielt dann inne. Als ob der Vorschlag tief in seinem Innern etwas ausgelöst hätte, wußte Jair plötzlich, wer es war, der ihm da gegenübersaß.

»Nenne meinen Namen.« Der andere lächelte.

Jair schluckte. »Ihr seid der König vom Silberfluß.«

Der alte Mann nickte. »Ich bin der, als den du mich bezeichnest. Ich bin auch dein Freund, wie ich einst der Freund deines Vaters und davor deines Urgroßvaters war — Männern, die ihrem Leben einen Sinn gaben und sich dem Land und seinen Bedürfnissen widmeten.«

Jair starrte ihn wortlos an und mußte plötzlich an den schlafenden Garet Jax denken. Wenn nun der Waffenmeister aufwachte...?

»Er wird schlafen, solange wir uns unterhalten«, wurde seine unausgesprochene Frage beantwortet. »Heute nacht wird uns niemand stören kommen, Kind des Lebens.«

Kind? Jair versteifte sich. Doch sogleich war sein Unmut wieder verflogen, dahingeschmolzen angesichts dessen, was er im Gesicht des anderen las — Wärme, Freundlichkeit, Liebe. Gegenüber diesem alten Mann konnte es keinen Zorn und keine harten Gefühle geben. Da hatte nur Achtung Raum.

»Hör mich nun an«, flüsterte die betagte Stimme. »Ich brauche dich, Jair. Laß deine Gedanken Ohren und Augen haben, damit du verstehst.«

Dann schien sich alles rings um den jungen Mann aufzulösen, und vor seinem geistigen Auge begannen sich Bilder zu formen. Er hörte, wie die Stimme des alten Mannes zu ihm sprach, hörte die eigentümlich gedämpften und traurigen Worte, die dem, was er sah, Leben verliehen.

Vor ihm lagen die Wälder des Anar und dort erstreckte sich das Rabenhorn, ein großes, weitgedehntes Gebirge, das sich schwarz und kahl vor eine karmesinrote Sonne schob. Zwischen seinen Gipfeln hindurch wand sich der Silberfluß als schmales, helles Lichtband vor dunklem Gestein. Er folgte seinem Verlauf flußaufwärts weit in die Berge, bis er ihn schließlich bis zur Quelle begleitet hatte, die sich hoch droben in einem einsam emporragenden Felsen befand. Dort stand ein Brunnen, dessen Wasser aus der Tiefe der Erde gespeist wurde und durch das Gestein gestaut, emporstieg, um überzulaufen und den weiten Weg westwärts anzutreten.

Doch da war noch etwas — außer dem Brunnen und seiner Quelle. Unterhalb des Gipfels inmitten von Nebel und Finsternis klaffte ein großes Loch, das ringsum von zerklüfteten Felswänden gesäumt wurde. Von ihm bis zum Gipfel führte eine lange, gewundene Treppe, eine schmale Steinspur, die sich in Spiralen nach oben wand. Dort wandelten finster und in ihren Absichten undurchschaubare Mordgeister. Einer nach dem anderen erreichten sie den Gipfel. Dort blieben sie in einer Reihe stehen und schauten hinab auf die Wasser des Brunnens. Dann traten sie wie ein Mann darauf zu und faßten mit den Händen ins Wasser. Sogleich wurde es faul und verwandelte sich vom reinsten Kristall zum häßlichsten Schwarz. Es lief den Berg hinab, drang langsam westwärts durch die weiten Wälder des Anar, wo die Zwerge lebten, dann auf das Land des Königs vom Silberfluß und zu Jair...