Vergiftet! Wie ein Schrei erklang das Wort im Kopf des Talbewohners. Der Silberfluß ist vergiftet worden, und das Land starb...
Schlagartig waren die Bilder erloschen. Jair blinzelte. Wieder saß der alte Mann vor ihm, und sein verwittertes Gesicht lächelte milde.
»Aus den Tiefen des Maelmords erklommen die Mordgeister den Weg, den man den Steig zum Himmelsbrunnen, der Lebensquelle des Silberflusses nennt«, flüsterte er. »Das Gift ist allmählich immer schlimmer geworden. Nun droht das Wasser ganz und gar zu verfaulen. Wenn das geschieht, Jair Ohmsford, wird alles Leben, das es vom unteren Anar westwärts bis zum Regenbogensee speist, allmählich dahinsterben.«
»Aber könnt Ihr es nicht aufhalten?« fragte der Talbewohner aufgebracht und zuckte zusammen vor Schmerzen angesichts der Erinnerung an das, was er gesehen hatte. »Könnt Ihr nicht zu ihnen gehen und sie aufhalten, ehe es zu spät ist? Gewiß ist Eure Macht doch größer als die ihre!«
Der König vom Silberfluß seufzte. »In meinem eigenen Land stelle ich den Weg und das Leben dar. Aber nur dort. Außerhalb bin ich machtlos. Ich tue mein Bestes, um das Wasser im Silberflußland sauber zu halten, doch für die anderen Länder kann ich nichts tun. Auch besitze ich nicht ausreichend Kraft, um dem Gift ewig standzuhalten, das unablässig herabströmt. Früher oder später werde ich unterliegen.«
Es trat eine kurze Stille ein, als die beiden einander im flackernden Schein des Lagerfeuers anschauten. Jairs Gehirn arbeitete wie rasend.
»Was ist mit Brin?« rief er plötzlich aus. »Sie und Allanon ziehen zur Heimstatt der Mordgeister-Macht, um sie zu vernichten. Wird die Vergiftung denn nicht aufhören, sobald sie das geschafft haben?«
Die Augen des alten Mannes fanden die seinen. »Ich habe deine Schwester und den Druiden in meinen Träumen gesehen, Kind. Sie werden scheitern. Sie sind Blätter im Wind. Sie werden beide verloren sein.«
Jair erstarrte. Er sah den alten Mann in fassungslosem Schweigen an. Verloren! Brin, dahin für immer...
»Nein«, murmelte er heiser. »Nein, Ihr täuscht Euch.«
»Sie kann gerettet werden«, erreichte ihn plötzlich die milde Stimme. »Du kannst sie retten.«
»Wie?« wisperte Jair.
»Du mußt zu ihr.«
»Aber ich weiß doch gar nicht, wo sie ist!«
»Du mußt dorthin gehen, wo sie deines Wissens sein wird. Ich habe dich ausersehen, an meiner Stelle als Retter des Landes und seines Lebens aufzutreten. Wir alle sind durch Fäden verbunden, weißt du, aber sie sind verknotet. Der Strang, an dem du ziehst, vermag alle übrigen zu lösen.«
Jair begriff nicht, was der alte Mann sagte, und es kümmerte ihn auch nicht. Er wollte nur Brin helfen. »Ratet mir, was ich tun muß.«
Der alte Mann nickte. »Du mußt den Anfang machen, indem du mir die Elfensteine gibst.«
Die Elfensteine! Jair hatte schon wieder vergessen, daß er sie bei sich trug. Ihr Zauber war die Kraft, die er brauchte, um die Magie der Mordgeister und alles Bösen, das sie zu dem Zweck aufbieten mochten, ihn aufzuhalten, zu vernichten!
»Kannst du sie für mich wirksam werden lassen?« fragte der Mann aus dem Tal eilends, als er sie aus seiner Jacke zog. »Kannst du mir zeigen, wie man ihre Kraft auslöst?«
Aber der König schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht. Ihre Macht ist nicht dein Besitz. Sie gehört nur demjenigen, dem der Zauber freiwillig geschenkt wurde, und dir wurde er nicht geschenkt.«
Jair sackte niedergeschlagen zurück. »Was sollte ich dann tun? Welchen Nutzen haben die Steine, wenn...«
»Großen Nutzen, Jair«, unterbrach der andere ihn sanft. »Aber zuerst mußt du sie mir geben. Für immer.«
Jair starrte ihn an. Zum erstenmal seit dem Erscheinen des alten Mannes hegte der junge Mann Zweifel. Es hatte die Elfensteine unter Einsatz seines Lebens aus seinem Elternhaus geborgen. Immer wieder hatte er sie geschützt zu dem einzigen Zweck, eine Möglichkeit zu finden, mit ihnen seiner Familie gegen die Mordgeister zu helfen. Nun verlangte man von ihm, die einzige wirkliche Waffe, die er besaß, aufzugeben. Wie sollte er dazu fähig sein?
»Gib sie mir«, wiederholte die fremde, sanfte Stimme.
Jair zögerte noch einen Augenblick und kämpfte mit seiner Unentschlossenheit. Dann reichte er sie langsam dem König vorn Silberfluß.
»Recht getan«, lobte der alte Mann. »Du zeigst Charakter und Urteilskraft, wie sie deiner Vorfahren würdig sind. Um dieser Eigenschaften willen habe ich dich auserwählt. Und diese Eigenschaften werden dich aufrecht halten.«
Er schob die Elfensteine in seine Gewänder und zog einen anderen Beutel heraus. »Dieser Beutel enthält Silberstaub — Lebenserwecker für die Wasser vom Silberfluß. Du mußt ihn zum Himmelsbrunnen bringen und in das vergiftete Wasser streuen. Wenn du das tust, wird der Fluß wieder sauber. Dann wirst du eine Möglichkeit finden, deine Schwester sich selbst wiederzugeben.«
Brin sich selbst wiedergeben? Jair schüttelte langsam den Kopf. Was meinte der alte Mann damit?
»Sie wird sich verlieren.« Wieder schien der König vom Silberfluß seine Gedanken lesen zu können. »Du verfügst über die Stimme, die ihr helfen wird, auf ihren Weg zurückzufinden.«
Jair verstand immer noch nicht. Er begann Fragen zu stellen, die seine Verwirrung beseitigen könnten, aber der alte Mann schüttelte langsam den Kopf.
»Höre auf meine Worte.« Ein dünner Arm streckte sich nach ihm und legte ihm den Beutel Silberstaub in die Hand. »Nun haben wir das Bündnis geschlossen. Wir haben Vertrauen gegen Vertrauen getauscht. Nun kann die Zauberkraft wirken. Deine Zauberkraft nützt dir gar nichts, so wenig wie die meine mir. Deshalb behalte ich deine und gebe dir die meine.«
Wieder griff er in seine Gewänder. »Die Elfensteine sind drei an der Zahl, jeweils einer für Verstand, Körper und Herz — Zauberkräfte, welche die Macht der Steine wirksam werden lassen. Demnach sollst du drei Zauberkräfte bekommen. Zuerst diese.«
In seiner Hand lag ein strahlender Kristall an einer Silberkette. Er reichte ihn Jair. »Für den Verstand einen Kristall. Wenn du ihn ansingst, zeigt er dir das Antlitz deiner Schwester, wo immer sie sich aufhalten mag. Benutze ihn, wenn du wissen mußt, wie es um sie steht. Und du wirst es erfahren müssen, denn du mußt zum Himmelsbrunnen emporgestiegen sein, ehe sie den Maelmord erreicht.«
Seine Hand hob sich zu Jairs Schulter. »Für deinen Körper die Kraft, die Reise ostwärts durchzustehen und den Gefahren standzuhalten, die dir drohen werden. Diese Kraft wirst du in jenen finden, die dich begleiten, denn du wirst diese Reise nicht alleine unternehmen. Für jeden demnach einen Hauch Magie. Sie beginnt und endet hier.« Er wies auf den schlafenden Garet Jax. »Wenn du ihn am meisten brauchst, wird er stets dasein. Er wird dein Beschützer sein, bis du endlich am Himmelsbrunnen angelangt bist.«
Dann wandte er sich wieder Jair zu. »Und für das Herz, mein Kind, den letzten Zauber — ein Wunsch, der dir am meisten nützen wird. Nur ein einziges Mal wirst du dich auf das Wunschlied stützen, und es wird dir nicht nur Trugbilder, sondern Wirklichkeit schenken. Es ist der Zauber, durch welchen du deine Schwester retten wirst. Benutze ihn, wenn du am Himmelsbrunnen stehst.«
Jair schüttelte langsam den Kopf. »Aber wie soll ich ihn benutzen? Was soll ich tun?«
»Ich kann dir die Entscheidung nicht abnehmen«, entgegnete der König vom Silberfluß.
»Wenn du den Silberstaub in das Becken vom Himmelsbrunnen geschüttet hast und die Wasser wieder rein sind, wirf den Sehkristall hinterher. Dort mußt du die Antwort finden.«
Er beugte sich nach vorn und hob die zerbrechliche Hand. »Aber sei gewarnt. Du mußt den Brunnen erreichen, ehe deine Schwester den Maelmord betritt. Es steht geschrieben, daß sie das schaffen wird, da das Vertrauen des Druiden in ihre Magie wohl verdient ist. Du mußt dort sein, wenn das geschieht.«