»Das will ich«, flüsterte Jair und drückte den Sehkristall fest an sich.
Der alte Mann nickte. »Ich habe großes Vertrauen in dich gesetzt. Die Schicksale der Länder und Völker hängen nun von dir ab, und du darfst sie nicht enttäuschen. Aber du hast Mut. Man kann sich auf dich verlassen. Sprich die Worte nach, Jair.«
»Du kannst dich auf mich verlassen«, wiederholte der Talbewohner.
Vorsichtig erhob sich der König vom Silberfluß wieder wie ein Geist in der Nacht. Große Müdigkeit überkam Jair plötzlich und zerrte ihn hinab in seinen Reiseumhang. Wärme und Trost durchströmten langsam seinen Körper.
»Du bist von allen am ehesten Teil von mir«, hörte er den alten Mann sagen, und die Worte klangen schwach und wie aus weiter Ferne. »Kind des Lebens, die Magie macht dich dazu. Alles ist in Fluß, aber die Vergangenheit wirkt fort und wird zum Kommenden. So war es bei deinem Urgroßvater und bei deinem Vater. So verhält es sich auch bei dir.«
Er verblaßte und verging wie Rauch im Feuerschein. Jair spähte ihm hinterdrein, doch sein Blick war von Müdigkeit so umwölkt, daß er anscheinend nicht klar sehen konnte.
»Wenn du erwachst, wird alles sein wie zuvor, bis auf eines — daß ich hier war. Schlaf nun, Kind. Friede sei mit dir.«
Jair schloß gehorsam die Augen und schlief.
11
Als Jair erwachte, war der Tag bereits angebrochen, Sonnenschein ergoß sich von einem wolkenlosen, blauen Himmel und wärmte die Erde, die noch feucht vom Morgentau war. Er streckte sich genüßlich und atmete den Duft von Brot und gekochtem Fleisch. Garet Jax kniete mit dem Talbewohner zugewandtem Rücken am Lagerfeuer und bereitete das Frühstück zu.
Jair schaute sich um. Spinkser war nirgendwo zu sehen.
Alles wird sein wie zuvor...
Schlagartig erinnerte er sich an alles, was in der vergangenen Nacht geschehen war, und setzte sich ruckartig hoch. Der König vom Silberfluß — oder war das alles nur ein Traum gewesen? Er blickte auf seine Hände hinab. Da lag kein Sehkristall. Als er schlafend zurückgesunken war, hatte er den Kristall — sofern wirklich einer dagewesen war — in der Hand gehabt. Er tastete den Boden danach ab und befühlte seinen Umhang. Immer noch kein Kristall. Dann war es wohl doch ein Traum gewesen. Er fühlte hastig seine Jackentaschen ab. Eine Ausbeulung in einer Tasche zeigte, daß die Elfensteine noch da waren — oder war es der Beutel mit dem Silberstaub? Rasch flogen seine Hände über seinen übrigen Körper.
»Suchst du etwas?«
Jair riß den Kopf hoch und stellte fest, daß Garet Jax ihn musterte. Er schüttelte schnell den Kopf. »Nein, ich habe nur...« stotterte er.
Dann fiel sein Blick auf ein metallisches Schimmern an seiner Brust, wo sein Hemd offenstand. Er schaute an sich hinab und preßte das Kinn an die Brust. Es war eine Silberkette.
»Möchtest du etwas essen?« fragte der andere Mann.
Jair hörte ihn gar nicht. Also war es doch kein Traum gewesen, dachte er. Es war Wirklichkeit. Es hatte sich alles so zugetragen, wie es in seiner Erinnerung war. Eine Hand folgte der Silberkette an seinem Hemd, bis er die Kristallkugel zu fassen bekam, die an ihrem Ende hing.
»Willst du nun etwas essen oder nicht?« wiederholte Garet Jax mit leicht gereiztem Unterton.
»Ja, ich... ja, gern«, murmelte Jair, stand auf und trat hinzu, um neben dem anderen zu knien. Er bekam einen Teller gereicht, gefüllt mit den Speisen aus dem Kessel. Er überspielte seine Aufregung und begann zu essen.
»Wo ist Spinkser?« erkundigte er sich einen Augenblick später, als ihm der abwesende Gnom wieder einfiel.
Garet Jax zuckte mit den Schultern. »Er ist nicht wiedergekommen. Vor dem Frühstück habe ich mich nach ihm umgesehen. Seine Spur führt hinunter zum Fluß und dann westwärts.«
»Westwärts?« Jair hörte zu kauen auf. »Aber das ist doch gar nicht der Weg in den Anar.«
Der Waffenmeister nickte. »Ich fürchte, dein Freund ist zu dem Schluß gekommen, daß er uns weit genug begleitet hat. Das ist das Ärgerliche an Gnomen — sie sind nicht sehr zuverlässig.«
Jair spürte, wie die Enttäuschung ihm einen Stich versetzte. Spinkser mußte tatsächlich beschlossen haben, seiner eigenen Wege zu gehen. Aber warum mußte er sich so davonschleichen? Warum hatte er nicht zumindest etwas sagen können. Jair dachte noch einen Moment darüber nach, zwang sich dann weiterzuessen und seine Enttäuschung zu verdrängen. Heute früh mußte er sich mit dringenderen Problemen beschäftigen.
Er dachte noch einmal alles durch, was der König vom Silberfluß ihm vergangene Nacht erzählt hatte. Er hatte einen Auftrag zu erfüllen. Er mußte in den unteren Anar zum Rabenhorn, dem Unterschlupf der Mordgeister, und zu einem Berggipfel namens Himmelsbrunnen. Es würde eine lange, gefährliche Reise werden — selbst für einen geübten Jäger. Jair starrte zu Boden. Natürlich würde er gehen. Daran bestand kein Zweifel. Aber so kampfbereit und entschlossen er sein mochte, mußte er sich doch eingestehen, daß er alles andere als ein geübter Jäger oder auf anderem Gebiet geübt war. Er würde Hilfe benötigen. Aber wo sollte er sie finden?
Er schaute neugierig zu Garet Jax hinüber. Dieser Mann wird dein Beschützer sein, hatte der König vom Silberfluß versprochen. Ich verleihe ihm Kraft, die Gefahren abzuwehren, die dir auf dieser Reise drohen. Wenn du ihn brauchen wirst, wird er dasein.
Jair runzelte die Stirn. Wußte Garet Jax von alledem? Es schien jedenfalls nicht so. Offensichtlich hatte der alte Mann den Waffenmeister vergangene Nacht nicht ebenso besucht wie ihn. Sonst hätte der Mann inzwischen etwas verlauten lassen. Das hieß, daß es Jairs Sache war, ihm alles zu erklären. Aber wie sollte der junge Mann aus dem Tal den Waffenmeister überzeugen, ihn in den unteren Anar zu begleiten? Und wie sollte er ihm glaubhaft machen, daß er nicht nur geträumt hatte?
Er grübelte noch über das Problem nach, als zu seiner völligen Verwunderung Spinkser zwischen den Bäumen hervorstapfte.
»Ist noch etwas im Topf?« erkundigte er sich und warf den beiden anderen einen finsteren Blick zu.
Garet Jax reichte ihm wortlos einen Teller. Der Gnom ließ den Rucksack zu Boden gleiten, den er trug, setzte sich ans Feuer und bediente sich mit einer gut bemessenen Portion Brot und Fleisch. Jair starrte ihn an. Er wirkte verstört und gereizt, als hätte er die ganze Nacht nicht geschlafen.
Der Gnom bemerkte seinen Blick. »Was ist los?« fuhr er ihn an.
»Nichts.« Jair schaute schnell weg, wandte ihm dann aber doch gleich wieder den Blick zu. »Ich habe mich nur gewundert, wo du gewesen bist.«
Spinkser blieb über seinen Teller gebeugt. »Ich zog es vor, am Fluß zu schlafen. Dort ist es kühler. Am Feuer war es mir zu heiß.« Jairs Blick schweifte zu dem abgelegten Rucksack, und der Gnom riß den Kopf in die Höhe. »Habe den Rucksack mitgenommen, um ein wenig flußaufwärts auf Erkundungsgang zu gehen — für alle Fälle. Obgleich ich überzeugt war, daß nichts...«
Er verstummte. »Ich muß dir doch nicht Rechenschaft ablegen, Junge! Was geht es dich an, was ich gemacht habe? Jetzt bin ich hier, oder? Laß mich in Ruhe!«
Er widmete sich wieder seinem Frühstück und machte sich wie besessen darüber her. Jair warf Garet Jax einen flüchtigen Blick zu, doch der Waffenmeister schien es nicht zu bemerken. Der Talbewohner drehte sich wieder zu Spinkser um. Er log natürlich; seine Spur führte flußabwärts. Garet Jax hatte es erzählt. Wieso hatte er beschlossen, zurückzukommen?
Es sei denn...
Jair riß sich zusammen. Der Gedanke war so ausgefallen, daß er es sich kaum vorstellen konnte. Aber vielleicht hatte der König vom Silberfluß seine Zauberkräfte wirklich benutzt, um den Gnomen zurückzuführen. Er wäre dazu in der Lage, dachte Jair, und Spinkser hätte ihn niemals überlistet oder begriffen, was mit ihm geschehen war. Vielleicht wußte der alte Mann, daß Jair den Fährtensucher brauchen würde — ein Gnom, der das ganze Ostland kannte.
Dann kam es Jair plötzlich in den Sinn, daß der König vom Silberfluß vielleicht auch Garet Jax zu ihm geführt hatte — daß der Waffenmeister ihm in den Schwarzen Eichen zu Hilfe gekommen war, weil der alte Mann es so gewollt hatte. War das möglich? War das der Grund, aus welchem Garet Jax ihn befreit hatte — ganz ohne es zu wissen? Jair saß in fassungsloser Stille und hatte sein Essen ganz vergessen. Das würde den Widerwillen sowohl des Fährtensuchers wie des Glücksritters erklären, über die Motive ihres Handelns zu sprechen. Sie verstanden sie selbst nicht ganz. Aber wenn das stimmte, dann mochte auch Jair durch ähnliche Manipulation hierhergeführt worden sein. Wieviel von allem, was ihm widerfahren war, war das Werk des alten Mannes?