Garet Jax beendete sein Frühstück und trat das Feuer aus. Spinkser war nun ebenfalls wieder auf den Beinen und zerrte wortlos an seinem hingeworfenen Rucksack. Jair starrte sie an und fragte sich, was er machen sollte. Er wußte, daß er nicht einfach schweigen konnte.
»Zeit zum Aufbruch«, rief Garet Jax ihm zu und winkte ihm, aufzustehen. Spinkser befand sich bereits am Rand der Lichtung.
»Wartet... wartet nur eine Minute.« Sie drehten sich um und sahen ihn an, als er sich in die Höhe stemmte. »Ich muß euch zuerst etwas erzählen.«
Er berichtete ihnen alles. Eigentlich hatte er das nicht vorgehabt, aber die Erklärung des einen führte zum nächsten; ehe er recht begriff, war die ganze Geschichte heraus. Er erzählte ihnen von Allanons Besuch im Tal und seiner Geschichte vom Ildatch, von Brins und Rone Leahs Aufbruch nach Osten mit dem Druiden, um sich Zugang zum Maelmord zu verschaffen, und schließlich vom Erscheinen des Königs vom Silberfluß und dem Auftrag, mit dem er Jair betraut hatte.
Als er fertig war, trat ein langes Schweigen ein. Garet Jax ging zu dem gefallenen Baumstamm zurück und setzte sich mit angespanntem Blick in den grauen Augen.
»Ich soll also dein Beschützer sein?« fragte er ruhig.
Jair nickte. »So hat er es gesagt.«
»Und wenn ich eine andere Entscheidung treffen würde?«
Jair schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht.«
»Ich habe ja schon viele wilde Geschichten gehört, aber das ist die wildeste, die ich jemals das Pech hatte, über mich ergehen zu lassen!« rief Spinkser plötzlich aus. »Was soll der ganze Unfug? Welcher Zweck steckt dahinter? Du nimmst doch wohl nicht eine Minute an, einer von uns würde auch nur ein Wort davon glauben.«
»Glaub, was du willst. Es ist die Wahrheit«, widersprach Jair und wich keinen Schritt zurück, als der Gnom auf ihn zukam.
»Die Wahrheit! Was weißt du schon von der Wahrheit?« Spinkser blieb skeptisch. »Du sprachst mit dem König vom Silberfluß, ja? Und er hat dir Zauberkraft verliehen, ja? Und nun sollen wir in den unteren Anar latschen, wie? Und nicht nur in den Anar, sondern geradewegs in den Rachen der schwarzen Wandler! In den Maelmord! Du bist verrückt, Junge! Das ist das einzig Wahre an dieser ganzen Geschichte!«
Jair griff in seine Tasche und zog den Beutel mit dem Silberstaub heraus. »Das ist der Staub, den er mir gegeben hat. Und hier.« Er hob die Silberkette mit dem Sehkristall von seinem Hals. »Siehst du? Das sind die Sachen, die ich von ihm bekommen habe, genau wie ich sagte. Überzeuge dich doch selbst.«
Spinkser warf die Arme in die Höhe. »Ich will sie gar nicht sehen! Ich will mit dem allem nichts zu tun haben. Ich weiß nicht einmal, was ich hier zu suchen habe!« Er wirbelte plötzlich herum. »Aber eines sollst du wissen — ich ziehe nicht in den Anar, nicht mit tausend Kristallen und mit einem ganzen Berg von Silberstaub! Such dir einen anderen Lebensmüden und laß mich in Ruhe!«
Garet Jax war aufgestanden. Er kam zu Jair herüber, nahm den Beutel aus seiner Hand, zog die Verschlußkordel auf und spähte hinein. Dann blickte er wieder zu Jair hoch.
»Sieht für mich aus wie Sand«, bemerkte er.
Jair schaute rasch hinein. Tatsächlich sah der Inhalt des Säckchens genau wie Sand aus. Da war kein silbernes Funkeln, wie man es von Silberstaub hätte erwarten können.
»Die Farbe könnte natürlich eine Tarnung sein, um vor Diebstahl zu schützen«, meinte der Waffenmeister nachdenklich mit in die Ferne gerichtetem Blick.
Spinkser war entgeistert. »Ihr glaubt doch nicht wirklich...«
Garet Jax fiel ihm ins Wort. »Ich glaube überhaupt nichts, Gnom.« Seine Augen waren hart, als sein Blick zu Jair wanderte. »Laß uns doch die Zauberkraft erproben. Hole den Sehkristall heraus und sing ihn an.«
Jair zögerte. »Ich weiß nicht, wie.«
»Du weißt nicht, wie?« höhnte Spinkser. »Bei den Schatten!«
Garet Jax rührte sich nicht. »Dann ist das eine gute Gelegenheit, es zu lernen, nicht wahr?«
Jair errötete und blickte auf die kleine Kristallkugel hinab. Keiner der beiden glaubte ein Wort von dem, was er erzählt hatte. Er konnte ihnen allerdings keinen großen Vorwurf machen. Er selbst hätte es auch nicht für möglich gehalten, wenn es ihm nicht selbst widerfahren wäre. Aber es war so, und es war zu überzeugend gewesen, um nicht der Wahrheit zu entsprechen.
Er holte tief Luft. »Ich werde es versuchen.«
Er begann, dem Kristall leise vorzusingen. Er hielt ihn mit beiden Händen umschlossen wie etwas sehr Zerbrechliches, und die Silberkette baumelte zwischen seinen Fingern herab. Er sang, ohne zu wissen, was er singen sollte und wie er den Kristall zum Leben erwecken könnte. Leise und sanft rief seine Stimme ihn an und bat ihn, Brin zu zeigen.
Der Kristall reagierte fast augenblicklich. In Jairs Handflächen erstrahlte Licht und erschreckte ihn so, daß er beinahe die Kugel fallengelassen hätte. Wie etwas Lebendiges erfüllte sie weißes, gleißendes Licht, und sie schwoll an, bis sie die Größe eines Kinderballs hatte. Garet Jax beugte sich tief hinab. Sein mageres Gesicht war angespannt. Spinkser kehrte über die Lichtung zu ihnen zurück.
Dann erschien plötzlich Brin Ohmsfords Gesicht dunkelhäutig und schön innerhalb des Lichts; es war von Bergen umrahmt, dessen Hänge sich kahl und hoch aufragend vor einer Dämmerung abzeichneten, die weniger freundlich war als die ihre.
»Brin!« flüsterte Jair.
Einen Augenblick lang glaubte er, sie könnte antworten, so real wirkte ihr Gesicht inmitten des Lichts. Doch ihre Augen waren in. weite Ferne gerichtet, und ihre Ohren waren taub für seine Stimme. Dann verblaßte das Bild; in seiner Aufregung hatte Jair zu singen aufgehört, und die Zauberkraft der Kristallkugel war verbraucht. Im gleichen Augenblick verlöschte das Licht. Jairs Hände schlössen sich wieder um die Kugel. »Wo war sie?« fragte er schnell.
Garet Jax schüttelte den Kopf. »Ich bin mir nicht sicher. Vielleicht...« Doch er sprach nicht zu Ende.
Jair drehte sich zu Spinkser um, doch der Gnom schüttelte ebenfalls den Kopf. »Ich weiß es nicht. Es ging zu schnell. Wie hast du das gemacht, Junge? Es ist dein Singen, nicht wahr? Das ist der Zauber, den du beherrschst.«
»Und die Zauberkraft des Königs vom Silberfluß«, fügte Jair schnell hinzu. »Glaubst du mir jetzt?«
Spinkser schüttelte finster den Kopf. »Ich gehe nicht in den Anar«, murmelte er.
»Ich brauche dich, Spinkser.«
»Du bedarfst meiner nicht. Mit solcher Magie brauchst du überhaupt niemanden.« Der Gnom wandte sich ab. »Sing dir einfach den Weg in den Maelmord, so wie deine Schwester.«
Jair schluckte den Ärger hinunter, der sich in ihm anstaute. Er schob den Kristall und den Beutel mit Silberstaub zurück in sein Hemd. »Dann gehe ich eben alleine«, erklärte er hitzig.
»Dazu besteht vorerst keine Notwendigkeit.« Garet Jax warf sich sein Bündel über die Schulter und setzte sich wieder in Bewegung, die Lichtung zu überqueren. »Zuerst werden wir dich unbeschadet nach Culhaven bringen, der Gnom und ich. Dann kannst du den Zwergen deine Geschichte darbieten. Der Druide und deine Schwester müßten inzwischen dort vorbeigekommen sein — oder zumindest müßten die Zwerge von ihnen gehört haben. Jedenfalls werden wir sehen, ob irgend jemand etwas von dem versteht, was du uns da erzählt hast.«
Jair stapfte eilends hinter ihm her. »Ihr denkt also auch, ich hätte mir das alles ausgedacht! Hört mir eine Minute zu. Warum sollte ich das? Welchen Grund könnte ich dafür haben? Los, sagt es mir!«