»Was für ein Glück, nicht wahr?« Jair errötete und geriet nun selbst ein wenig in Zorn. »Du wärst mir schon die richtige Hilfe, die alle fünf Minuten die Partei wechselt, wenn es mal ein bißchen haarig wird! Ich dachte, du hättest mir in den Eichen damals geholfen, weil du eine Wahl getroffen hättest! Ich glaubte, es ist dir wichtig, was aus mir wird. Nun, vielleicht habe ich mich getäuscht. Was ist dir überhaupt wichtig, Spinkser?«
Der Gnom war verblüfft. »Für mich ist wichtig, am Leben zu bleiben. Und darum solltest du dich auch kümmern, wenn du nur einen Deut Grips hättest.«
Jair erstarrte vor Empörung. Er hob sich halb von seinem Platz und stemmte die Arme auf den Tisch. »Am Leben bleiben! Na, wie genau willst du es anstellen, wenn die Mordgeister das Ostland vergiften und dann westwärts in die anderen Länder ziehen? Und genau das wird passieren, nicht wahr? Du hast es selbst gesagt! Wohin willst du dann fliehen? Noch einmal einen Frontwechsel in Erwägung ziehen — wieder so lange Gnom werden, um die Wandler zu täuschen?«
Spinkser hob die Hand und schob Jair beiseite. »Du hast ein großes Maul für einen, der so wenig vom Leben weiß. Wenn du vielleicht draußen in der Welt gewesen wärst und für dich selbst hättest sorgen müssen, anstatt dich von jemandem verhätscheln zu lassen, wärst du nicht so schnell dabei, auf andere mit dem Finger zu zeigen. Und jetzt halt den Mund!«
Jair verfiel augenblicklich in Schweigen. Er würde nichts erreichen, wenn er die Angelegenheit weitertrieb. Spinkser hatte beschlossen, ihm nicht zu helfen, also war das vorbei. Wahrscheinlich war er ohne den Gnomen ohnehin besser dran.
Die beiden warfen einander noch finstere Blicke zu, als Garet Jax ein paar Augenblicke später zurückkam. Er war alleine und trat direkt an ihren Tisch. Falls er die Spannung zwischen ihnen bemerkte, ließ er sich jedenfalls nichts anmerken. Er setzte sich neben Jair.
»Du sollst vor dem Ältestenrat erscheinen«, eröffnete er ihm ruhig.
Jair schüttelte langsam den Kopf. »Ich weiß nicht recht. Ich bezweifle, ob das richtig ist.«
Der Waffenmeister nagelte ihn mit Blicken fest. »Du hast keine Wahl.«
»Und was ist mit Brin? Und Allanon?«
»Man hat nichts von, ihnen gehört. Foraker hat es nachgeprüft, sie sind nicht in Culhaven gewesen. Niemand weiß etwas über sie.« Die grauen Augen musterten den Talbewohner eingehend. »Welche Hilfe du zu deinem Auftrag suchst, du wirst sie alleine finden müssen.«
Jair warf Spinkser einen knappen Blick zu, doch der Gnom wollte ihn nicht anschauen. Er wandte sich wieder an Garet Jax. »Wann soll ich vor den Rat treten?«
Der Waffenmeister erhob sich. »Jetzt.«
Der Ältestenrat der Zwerge war im Versammlungshaus zusammengetreten, einem großen, höhlenartigen Saal im Innern eines quadratischen Baus, in dem alle Ämter für die Regierungsangelegenheiten der Siedlung Culhaven untergebracht waren. Die zwölf Ratsmitglieder saßen hinter einem langen Tisch auf einem Podium am Ende des Saales und blickten auf die Bankreihen hinab, welche durch breite Gänge getrennt waren; sie führten zu zwei großen Doppeltüren, durch welche man den Raum betrat. Durch diese Türen führte Garet Jax Jair und Spinkser. Alles außer dem vorderen Teil des Saales war in Dunkelheit getaucht; vorne warfen Öllampen ihr hartes, gelbes Licht auf die Bühne. Die Drei, die den Raum betraten, gingen bis zum Rand des Lichtscheins und blieben dort stehen. Eine Anzahl anderer hatten Plätze auf den Bänken vor dem Podium inne und hoben und drehten die Köpfe, als sie sich näherten. Ein Dunst von Pfeifenrauch hing über den versammelten Männern, und der beißende Geruch von brennendem Tabak erfüllte die Luft.
»Tretet vor!« rief eine Stimme.
Sie gingen weiter, bis sie auf Höhe der vordersten Bankreihe standen. Jair schaute sich voller Unbehagen um. Die Gesichter, die seinen Blick erwiderten, waren nicht nur die von Zwergen. Zu seiner Rechten saßen eine Handvoll Elfen und ein halbes Dutzend Grenzleute von Callahorn weit zu seiner Linken. Foraker war ebenfalls anwesend, und sein bärtiges Gesicht wirkte mürrisch und ernst, als er sich an die gegenüberliegende Wand lehnte.
»Willkommen in Culhaven«, erklang die Stimme erneut.
Der Sprecher erhob sich von dem Tisch auf dem Podium. Es war ein graubärtiger Zwerg fortgeschrittenen Alters mit rauhem, schroffem Gesicht, dessen gebräunte Haut faltig wirkte im kalten Licht der Lampen. Er stand in der Mitte der Ratsältesten.
»Ich bin Browork, Ältester und Bürger von Culhaven und Vorsitzender dieses Rates«, stellte er sich vor. Er hob die Hand und winkte Jair heran. »Tritt vor, Talbewohner.«
Jair trat ein oder zwei Schritte auf ihn zu, blieb stehen, betrachtete die Reihe der Gesichter, die auf ihn herabblickten. Sie wirkten alle recht alt und verwittert, doch ihre Augen waren noch schnell und aufmerksam, als sie ihn musterten.
»Dein Name?« fragte ihn Browork.
»Jair Ohmsford«, erwiderte er. »Aus Shady Vale.«
Der Zwerg nickte. »Was willst du uns vortragen, Jair Ohmsford?«
Jair schaute sich um. Die Gesichter rings um ihn her warteten gespannt — Gesichter, die er nicht kannte. Sollte er ihnen offenlegen, was er wußte? Er schaute zu dem Ältesten zurück.
»Du kannst offen sprechen«, versicherte ihm Browork, der seine Sorge spürte. »Alle hier Versammelten sind vertrauenswürdig; es sind alles Anführer im Kampf gegen die Mordgeister.«
Er setzte sich wieder langsam auf seinen Platz und wartete. Jair schaute sich noch einmal um, dann holte er tief Luft und begann zu sprechen. Schritt für Schritt enthüllte er alles, was seit Allanons Ankunft in Shady Vale vor jenen vielen Nächten geschehen war. Er berichtete — vom Erscheinen des Druiden, seiner Warnung vor den Mordgeistern, wie er Brin brauchte und von ihrem gemeinsamen Aufbruch nach Osten. Er schilderte die folgende Flucht, die Abenteuer, die ihm im Hochland und in den Schwarzen Eichen widerfahren waren, seine Begegnung mit dem König vom Silberfluß und die Prophezeiung dieser legendären Person. Er brauchte einige Zeit, bis er seine Erzählung zu Ende geführt hatte. Während er sprach, lauschten die Männer schweigend. Er konnte sich nicht dazu durchringen, sie anzusehen; er fürchtete sich vor dem, was er in ihren Gesichtern lesen könnte. Statt dessen starrte er auf die Narben und Höhlungen, die Broworks verwittertes Antlitz zeichneten, und in die tiefliegenden blauen Augen, die seinen Blick fest erwiderten.
Als er schließlich fertig war, beugte sich der Zwergenälteste langsam nach vorn, faltete die rauhen Hände auf dem Tisch vor sich und blickte Jair unverwandt an.
»Vor zwanzig Jahren kämpfte ich an Allanons Seite, um die Dämonen-Horden von der Elfenstadt Arborlon zurückzuschlagen. Es war eine schreckliche Schlacht. Der junge Edain Elessedil...« Er wies mit der Hand auf einen blonden Elf, der kaum älter war als Brin. »... war zu jener Zeit noch nicht auf der Welt. Sein Großvater, der große Eventine, war damals König der Elfen. Seinerzeit ging Allanon zum letzten Mal in den Vier Ländern um. Seither wurde der Druide nicht mehr gesehen, Talbewohner. Er ist nicht nach Culhaven gekommen. Er kam auch nicht ins Ostland. Was sagst du dazu?«
Jair schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, warum er diesen Weg nicht genommen hat. Ich weiß nicht, wohin er gezogen ist. Ich weiß nur, welches Ziel er ansteuert — und meine Schwester mit ihm. Und ich weiß auch, daß er im Ostland gewesen ist.« Er drehte sich zu Spinkser um. »Dieser Jäger folgte seinen Spuren vom Maelmord westwärts bis zu meinem Haus.«
Er wartete auf eine Bestätigung, aber Spinkser schwieg.
»Allanon ist seit zwanzig Jahren von niemandem mehr gesehen worden«, wiederholte ein anderer Ratsältester rasch.
»Und niemand hat jemals mit dem König vom Silberfluß gesprochen«, warf ein dritter ein.