Jair Ohmsford blieb eine lange Weile, nachdem er gegangen war, sitzen und fragte sich, ob er es tatsächlich verstand.
Als sie am nächsten Morgen aufwachten, holte Jair den Sehkristall heraus, um zu erfahren, was aus Brin geworden war, seit er sie das letzte Mal gesucht hatte.
Regen und grauer Nebel verhüllten den Wald, als die Mitglieder des kleinen Trupps sich um den Talbewohner scharten. Er hielt den Kristall vor sich, damit alle sehen konnten, und begann zu singen. Leise und unheimlich erfüllte das Wunschlied die Stille der Dämmerung mit seinem Klang und schwoll durch das Plätschern des Regens auf der Erde an. Dann flackerte in der Kugel heftig und plötzlich Licht auf, und Brins Gesicht erschien. Sie blickte zu den Mitgliedern der Reisegesellschaft hervor und suchte nach etwas, das ihre Augen nicht finden konnten. Hinter ihr waren Berge, die sich finster und kahl gegen eine ebenso graue, bedrückende Dämmerung wie die ihre erhoben. Jair sang weiter und folgte dem Gesicht seiner Schwester, als die sich plötzlich umdrehte. Da waren Rone Leah und Allanon und höben die erschöpften Gesichter zu einem tiefen, undurchdringlichen Wald.
Jair hörte zu singen auf, und die Vision war verschwunden. Er schaute besorgt in die Gesichter um ihn her. »Wo ist sie?«
»Das Gebirge sind die Drachenzähne«, brummte Helt leise. »Sie sind unverwechselbar.«
Garet Jax nickte und schaute Foraker an. »Und der Wald?«
»Das ist der Anar.« Der Zwerg rieb sein bärtiges Kinn. »Sie kommen hierher, sie und die anderen beiden, aber weiter nördlich, über den Rabb.«
Der Waffenmeister packte Jair bei den Schultern. »Als du den Sehkristall das letzte Mal benutzt hast, waren da meiner Ansicht nach doch die gleichen Berge — die Drachenzähne. Deine Schwester und der Druide befanden sich mitten in den Bergen; jetzt verlassen sie sie. Was hatten sie dort wohl zu schaffen?«
Es herrschte ein Moment des Schweigens, als die Männer einander anschauten.
»Paranor«, sagte Edain Elessedil plötzlich.
»Die Druiden-Festung«, stimmte Jair sogleich zu. »Allanon hat Brin in die Druiden-Burg mitgenommen.« Er schüttelte den Kopf. »Aber wozu?«
Diesmal antwortete keiner. Garet Jax richtete sich auf. »Wir werden es nicht herausfinden, wenn wir hier hocken bleiben. Die Antworten auf derlei Fragen liegen im Osten.«
Sie erhoben sich. Jair schob den Sehkristall wieder unter sein Hemd. Sie setzten die Wanderung in den Anar fort.
16
Am vierten Tag nach ihrem Aufbruch aus Culhaven gelangten sie an den Keil.
Es war am späten Nachmittag, und der Himmel hing grau und bedrohlich über dem Land. Regen fiel in regelmäßigen Schleiern wie die gesamten vergangenen drei Tage, und der Anar war triefend naß und kalt. Der Herbstfarben beraubte Bäume schienen schwarz und kahl zwischen den Nebelschwaden, die wie Geister durch die dunkler werdende Dämmerung zogen. In dem leeren, finsteren Wald herrschte nur Schweigen.
Den ganzen Tag über war das Land langsam und ebenmäßig angestiegen, und der Hang erhob sich nun zu einer Masse von Felswänden und Graten. Zwischen ihnen hindurch sprudelte der vom Regen angeschwollene Silberfluß in einer tiefen, wild gezackten Schlucht. Um sie herum erhoben sich Berge und sperrten sie in kahle Felswände ohne alle Bäume und Sträucher. Verdunkelt durch den Nebel und die hereinbrechende Nacht war der Silberfluß bald so gut wie nicht mehr zu sehen.
Dieser Schlucht hatten die Zwerge den Namen der Keil gegeben.
Die Mitglieder der kleinen Gruppe kamen hoch am südlichen Hang an; sie hielten die Köpfe in den Wind gebeugt und die Mäntel eng um sich geschlungen, als Kälte und Regen hindurchdrangen. Stille hing über allem, bis auf das Heulen des Windes, der alle Geräusche außer seinem eigenen auslöschte, und jeder der Männer war erfüllt von einem tiefen und durchdringenden Gefühl der Einsamkeit. Der Trupp marschierte zwischen Sträuchern und Kiefern hindurch und bahnte sich langsam und beständig seinen Weg. Der ganze Himmel schien auf sie herniederzudrücken, als der Nachmittag zu Ende ging und die Nacht allmählich herankroch. Foraker ging vornweg; er war in diesem Land zu Hause und mit seinen Hinterhalten am ehesten vertraut. Ihm folgte Garet Jax, so schwarz und hart wie die Bäume, zwischen denen sie hindurchschlüpften; dann folgten Spinkser, Jair und Edain Elessedil. Der riesenhafte Helt bildete die Nachhut. Keiner sprach ein Wort. Bei dem schweigsamen Marsch zogen die Minuten sich in die Länge.
Sie hatten eine leichte Anhöhe überschritten und waren in einen Bestand glitzernder Tannen gekommen, als Foraker plötzlich stehenblieb, lauschte und sie in den Schutz der Bäume winkte. Mit einem Wort zu Garet Jax huschte der Zwerg davon und verschwand in Nebel und Regen.
Sie warteten schweigend auf seine Rückkehr. Er blieb lange fort. Als er schließlich wieder auftauchte, kam er aus einer völlig anderen Richtung. Er gab ihnen Zeichen zu folgen und führte sie tiefer zwischen die Bäume. Dort knieten sie im Kreis um ihn.
»Gnomen«, berichtete er ruhig. Wasser rann von seinem kahlen Schädel in seinen Bart und versickerte darin. »Mindestens hundert. Sie halten die Brücke besetzt.«
Es trat erschrockenes Schweigen ein. Die Brücke befand sich im Zentrum angeblich sicheren Gebiets — eines Gebiets, das von einer ganzen Armee von Zwergen, die auf der Festung von Capaal stationiert waren, geschützt wurde. Wenn sich Gnomen so weit westlich und so nahe bei Culhaven aufhielten, was war dann aus dem Heer geworden?
»Können wir sie umgehen?« erkundigte sich Garet Jax sogleich.
Foraker schüttelte den Kopf. »Es sei denn, du möchtest mindestens drei Tage verlieren. Die Brücke ist der einzige Übergang über den Keil. Wenn wir ihn hier nicht überschreiten, müssen wir zurück aus den Bergen und südwärts einen Bogen durch die Wildnis schlagen.«
Regen prasselte in der folgenden Stille auf ihre Gesichter nieder. »Wir dürfen keine drei Tage vergeuden«, erklärte der Waffenmeister schließlich. »Können wir uns an den Gnomen vorüberschleichen?«
Foraker zuckte mit den Schultern. »Vielleicht, wenn es dunkel ist.«
Garet Jax nickte langsam. »Führe uns hinauf, daß wir es uns einmal ansehen können.«
Sie kletterten in die Felsen hoch, bogen um Kiefern, Tannen und Unterholz, um feuchte, regenglitschige Findlinge, durch Nebel und zunehmende Dunkelheit. Als lautlose Schatten huschten sie weiter und krochen hinter Elb Foraker her vorsichtig in das Dämmerlicht.
Dann schimmerte das Flackern eines Feuers durch das Grau, dessen schwacher einsamer Schein vom Regen verwaschen war. Es sickerte von jenseits der Felsen vor ihnen herüber. Wie ein Mann duckten sie sich aus seinem Licht und drangen langsam weiter bis zu der Stelle vor, wo sie über den Rand eines Kammes spähen und hinabschauen konnten.
Unter ihnen fielen die nackten Wände des Keils senkrecht, nebelverhangen und regengepeitscht, hinab, als die Nacht hereinbrach. Über den gewaltigen Abgrund spannte sich eine stabile Bockbrücke aus Bauholz und Eisenteilen, die an einer Schmalstelle an der Felswand befestigt und mit Zwergengeschick und -baukunst gegen die Wucht und Erosion des Windes gesichert war. Diesseits der Brücke verlief eine breite Felsplatte zurück zur Kammlinie, die dünn bewaldet und mit Wachfeuern der Gnomen im Schutz von improvisierten Windfängen und Leinenzelten überzogen waren. Überall hockten Gnomen — in dunklen Gruppen um die Feuer, innerhalb der Zehe, wo der Feuerschein ihre Silhouetten abzeichnete, und entlang der Felsplatte vom Kamm bis zur Brücke. Auf der anderen Seite der Schlucht, so daß sie in der Dunkelheit fast untergingen, patrouillierten ein Dutzend weitere auf einem schmalen Pfad, der vom Abhang über einen gemächlichen Anstieg zu einem weiten, bewaldeten Hang führte, der hundert Meter weiter in die Wildnis abfiel.
Zu beiden Enden der Bockbrücke standen Gnomen-Jäger Wache.
Die sechs, die auf dem Kamm kauerten, studierten die Szene unten lange Augenblicke, dann gab Garet Jax ihnen Zeichen, sich alle in die Deckung einer Ansammlung von Findlingen etwas unterhalb zurückzuziehen.