Sobald sie dort angelangt waren, wandte der Waffenmeister sich an Helt. »Können wir uns vorbeischleichen, sobald es dunkel ist?«
Der kräftige Mann schaute zweifelnd drein. »Vielleicht bis zur Brücke.«
Garet Jax schüttelte den Kopf. »Das ist nicht weit genug. Wir müssen an den Wachposten vorbei.«
»Einer könnte es schaffen«, meinte Foraker langsam, »unter der Brücke, an den Stützbalken entlangzukriechen. Wenn er schnell genug wäre, könnte er hinüberschleichen, die Wachposten überwältigen und die Brücke so lange halten, bis die anderen nachkommen.«
»Das ist Wahnsinn!« rief Spinkser plötzlich aus und schob sein derbes Gesicht ins Blickfeld. »Selbst wenn Ihr es irgendwie schafftet, auf die andere Seite zu gelangen — vorbei an diesen etwa zwölf Wachen — so wird euch der Rest innerhalb einer Minute auf den Fersen sein! Wie wollt ihr ihnen entkommen?«
»Zwergen-Erfindungsgabe«, knurrte Foraker langsam. »Wir bauen besser als die meisten, Gnom. Diese Brücke ist so montiert, daß sie kurzzeitig abgebrochen werden kann. Wenn man zu beiden Seiten die Pflöcke zieht, stürzt das ganze Ding in die Schlucht.«
»Wie lange braucht man, um die Pflöcke zu entfernen?« fragte ihn Garet Jax.
»Eine Minute, vielleicht zwei. Eine Zeitlang hat man erwartet, die Gnomen würden Capaal angreifen.« Er schüttelte den Kopf.
»Ich bin allerdings besorgt, daß sie es jetzt getan haben und von niemand aufgehalten wurden. Und die Art, wie sie ihr Lager aufgeschlagen haben, läßt vermuten, daß sie keine großen Befürchtungen hegen, von der anderen Seite angegriffen zu werden.« Er schüttelte wieder den Kopf. »Ich mache mir Sorgen um das Heer.«
Garet Jax wischte sich den Regen aus den Augen. »Sorge dich ein andermal darum.« Er warf den übrigen einen raschen Blick zu. »Hört genau her. Wenn es dunkel ist, wird Helt uns durch das Lager zur Brücke führen. Ich werde unter ihr auf die andere Seite kriechen. Sobald ich die Wachposten ausgeschaltet habe, kommen Elb, der Gnom und der Talbewohner herüber. Helt, Ihr und der Elfenprinz benutzt die Langbogen, um die Gnomen auf dieser Seite abzuwehren, bis die Pflöcke gezogen sind. Dann lauft herüber, wenn wir euch rufen, und wir versenken die Brücke.«
Elb Foraker, Helt und Edain Elessedil nickten kommentarlos.
»Dort drunten lagern über hundert Gnomen«, warnte Spinkser hitzig. »Wenn irgend etwas schiefgeht, haben wir nicht die geringste Chance.«
Foraker musterte den Gnomen kalt. »Das sollte Euch doch keine Sorgen machen, oder? Ihr könnt schließlich immer noch so tun, als gehörtet Ihr zu ihnen.«
Jair warf dem Gnomen einen raschen Blick zu, aber Spinkser wandte sich schweigend ab. Garet Jax stand auf.
»Von jetzt an keinen Laut mehr. Vergeßt nicht, was zu tun ist.«
Sie kletterten zurück auf die Kammlinie, duckten sich dann geduldig zwischen den Felsen und beobachteten, wie die Nacht herniedersank. Eine Stunde verstrich. Dann zwei. Noch immer ließ der Waffenmeister sie an Ort und Stelle warten. Dunkelheit legte sich über die ganze Schlucht, und Regen und Nebel strichen wie ein Schleier darüber hinweg. Die Kälte wurde beißender und durchdrang sie mit lähmender Schärfe. Unten zeichneten sich die Feuer der Gnomen-Jäger heller vor der Finsternis ab.
Dann hob Garet Jax seinen Arm, und der kleine Trupp erhob sich. Wie verstreute Nachtfetzen huschten sie von den Felsen davon und machten sich an den Abstieg zum Gnomenlager. Sie folgten im Gänsemarsch Helt, der langsam und vorsichtig den Weg nach unten anführte. Der Feuerschein rückte näher, dann wurden Stimmen im Rauschen von Wind und Regen vernehmbar — leise, kehlig und mit unbehaglichem Unterton. Die sechs Gestalten krochen an Feuern und Zelten vorbei und bückten sich tief in die Schatten, die sich von Felsen und Bäumen in die Nacht ausbreiteten. Sie bogen links um das Lager und nur Helts Nachtsichtigkeit bewahrte sie davor, den Abgrund hinabzustürzen.
Die Minuten verstrichen, und ihr langsamer Schleichweg durch das feindliche Lager zog sich in die Länge. Jair konnte Essensdüfte riechen, die der Wind ihm ins Gesicht wehte. Er konnte die Stimmen der Gnomen, ihr Lachen und Grunzen hören und die Bewegungen sehen, wenn ihre gestählten Körper durch den schwachen Feuerschein huschten. Er gab sich alle Mühe, nicht einmal zu atmen und zwang sich, eins zu werden mit der Nacht. Dann schoß es ihm plötzlich in den Kopf, daß er ja tatsächlich eins mit der Nacht werden könnte, wenn er das wollte. Er konnte das Wunschlied benutzen, um sich unsichtbar zu machen.
Und dann wurde ihm klar, daß er gerade auf eine bessere Möglichkeit gestoßen war, sie alle über die Brücke zu bringen.
Aber wie sollte er sie den anderen erklären?
Sie waren an den Rand der Schlucht gekrochen und befanden sich nun jenseits des Schutzes von Felsen und Bäumen. Vor ihnen dehnte sich nur die nackte Felswand. Sie schoben sich weiter und duckten sich tief in die Nacht. Hier brannten keine Feuer, so daß sie in Nebel und Regen verborgen blieben. Vor ihnen erhob sich bedrohlich der Rumpf der Bockbrücke, deren Holzpfähle vom Regen glänzten, aus der Dunkelheit. Von oberhalb erklangen leise Gnomenstimmen bei knappen und rätselhaften Wortwechseln, als die Wachposten sich tief in ihre Mäntel kauerten und sehnsüchtig nach der Wärme und Fröhlichkeit des Lagers hinter sich umsahen. Schweigend geleitete Helt die Gruppe hinab, wo unterhalb der Brücke die Stützpfosten im Gestein verankert waren. Meter weiter öffnete sich die leere Tiefe des Keils zu einer ungeheuren Kluft, in deren höhlenartigen Tiefen der Wind über das Gestein heulte.
Sie duckten sich eng zusammengedrängt nieder, und nun zupfte Jair vorsichtig an Garet Jaxens Jacke. Das harte Gesicht schwenkte herum. Jair deutete auf den Waffenmeister, dann auf sich, dann auf die Wachposten über ihnen auf der Brücke. Garet Jax runzelte die Stirn. Jair deutete auf seinen Mund, sagte lautlos »Gnom« und wies dann wieder auf sie beide. Durch das Wunschlied können wir den Wachposten als Gnomen erscheinen und hinübergehen, ohne aufgehalten zu werden, versuchte er ihm deutlich zu machen. Sollte er es flüstern? Aber nein, der Waffenmeister hatte angeordnet, daß keiner einen Ton sagen sollte. Der Wind würde ihre Stimmen weitertragen; es war zu gefährlich. Er wiederholte die gleichen Bewegungen. Die anderen krochen näher heran und schauten einander voller Unbehagen an, als Jair Garet Jax weiter zugestikulierte.
Schließlich schien der Waffenmeister zu begreifen. Er zögerte einen Augenblick, dann packte er Jairs Arm, zog ihn dicht heran und deutete auf die anderen und die Brücke über ihnen. Konnte der Talbewohner sie alle tarnen? Jair zögerte; darüber hatte er nicht nachgedacht. Besaß er genügend Kraft, die Täuschung so weit zu treiben? Es war dunkel, es regnete, und sie trugen alle Umhänge mit Kapuzen. Es wäre nur für Augenblicke. Er nickte, daß er es schaffen würde.
Garet Jax hielt ihn mit beiden Händen an den Schultern und betrachtete ihn aus grauen Augen. Darin gab er den anderen Zeichen, ihnen nach oben zu folgen. Der Talbewohner würde das Wunschlied benutzen, um sie hinüberzuführen. Sie wußten nicht, wie er es schaffen wollte, doch sie hatten miterlebt, über welche Macht er verfügte. Darüber hinaus vertrauten sie alle bedingungslos — außer vielleicht Spinkser, und selbst der hätte sich unter anderen Umständen dem anderen gebeugt — auf das Urteil von Garet Jax. Wenn der an Jair glaubte, wollten sie es ebenfalls.
Sie erhoben sich, eng zusammengedrängt, von der Stelle, wo sie sich zusammengekauert hatten, und stapften kühn die steile Anhöhe auf die Brücke zu. Vor ihnen scharten sich dunkle Gestalten in müßiger Unterhaltung zusammen. Als die Gnomen-Wachen ihr Näherkommen plötzlich bemerkten, drehten sie sich um. Es waren nur drei. Jair sang bereits, seine Stimme mischte sich als heiseres, gutturales Lied, das von Gnomen sang, in den Wind. Einen Augenblick lang schienen die Wachposten zu zögern, und ein paar hoben vorsichtig ihre Waffen. Jair drängte voran und mühte sich mit dem Wunschlied, sie alle wie Spinkser erscheinen zu lassen. Der Fährtensucher wird jetzt sicher denken, ich hätte den Verstand verloren, dachte er flüchtig. Aber er sang weiter.