„Hier entlang!“ rief Elb Foraker und zerrte den Elfenprinz hinter sich her.
Sie kletterten den Hang hinauf und kämpften sich mit Händen und Füßen über lockere Erde und Steine. Wütende Schreie schallten hinter ihnen her, und plötzlich umschwirrten sie Pfeile, daß es in ihren Ohren nur so pfiff. Fackeln hüpften in der Dunkelheit, um sie zu suchen, doch für den Augenblick zumindest befanden sie sich außer Reichweite des Feuerscheins.
Von irgendwo weit drunten erklang plötzlich ein Dröhnen, und die beiden Verfolgten drehten sich um, zu sehen, was geschah. Die Lichter der Wachfeuer schienen sich über die ganze Bergwand auszubreiten, Feuerfünkchen schossen wild durch die Finsternis. Auf der dunklen Linie der südlichen Gipfel tauchten plötzlich Hunderte weitere auf — Fackeln der Armee, die an den Ufern des Cillidellan lag. Nun schien die ganze Bergwand ein helles Flammenmeer.
„Elb, sie sind überall um uns her!“ schrie der Elfenprinz überwältigt von der Zahlenstärke des Feindes.
„Klettere weiter!“ keifte der andere ihn an.
Also stiegen sie weiter und erkämpften sich ihren Weg durch die Dunkelheit. Nun tauchte zu ihrer Rechten ein neuer Haufen Fackeln auf, und die Gnomen, die sie trugen, heulten wütend auf, als sie sie entdeckten. Speere und Pfeile hagelten rings um die beiden Kletterer. Foraker setzte den Aufstieg fort und suchte mit hektischen Blicken die dunkle Felswand ab.
„Elb!“ schrie Edain Elessedil schmerzerfüllt auf und wirbelte herum, als seine Schulter von einem Pfeil durchbohrt wurde.
Sogleich war der Zwerg an seiner Seite. „Weiter - noch zehn Meter, zu den Sträuchern! Beeil dich!“
Foraker faßte den verletzten Elfenprinzen unter und schleppte sich mit ihm so auf ein Dickicht zu, das plötzlich aus der Nacht emporragte. Nun flackerte auch oberhalb ihres Standortes Fackelschein auf, und Gnomen-Jäger stürmten von den Hängen der Gipfel herab, wo die Suchmannschaften alle Fluchtmöglichkeit abschnitten. Edain Elessedil biß die Zähne gegen den Schmerz in seiner Schulter zusammen und kämpfte sich mit dem Zwergen weiter.
Sie wankten in das Gebüsch und in die alles verhüllende Dunkelheit, wo sie sich keuchend zu Boden fallen ließen.
„Hier werden... sie uns finden“, japste der Prinz und rappelte sich auf die Knie hoch. Auf seinem Rücken vermischten sich Blut und Schweiß und rannen seine Haut hinab.
Foraker riß ihn wieder zu Boden. „Bleib liegen!“ Er drehte sich um und tastete durch das Dickicht, bis er den Boden fand, auf dem es wuchs. „Hier! Eine Tunneltür! Dachte ich mir doch, daß ich mich noch richtig erinnerte, aber... wir müssen das Schnappschloß finden...“
Unter Edain Elessedils Blicken begann er hektisch am Hang herumzuwühlen, scharrte durch spröde Steine und Erdbrocken und zog und kratzte in verbissenem Schweigen. Die Schreie ihrer Verfolger rückten beständig näher. Zwischen schmalen Spalten im Dickicht leuchtete flackernder Fackelschein auf, der vor dem schwarzen Hintergrund hüpfte und schaukelte.
„Elb, sie sind fast da!“ flüsterte Edain heiser. Er griff an seinen Gürtel und zog das kurze Schwert.
„Ich hab’s!“ rief der Zwerg triumphierend.
Ein quadratischer Block aus Gestein und Erde schwenkte zurück, und vor ihnen gähnte eine Öffnung an der Bergwand. In aller Eile krabbelten sie ins Dunkel auf der anderen Seite, und Foraker zog die Felsentür hinter ihnen zu. Sie schloß sich geräuschvoll und sperrte sie ein, als die Schlösser mit mehrfachem deutlichem Klicken zuschnappten.
Lange Augenblicke blieben sie im Dunkeln liegen und lauschten auf die schwachen Geräusche von den Gnomen draußen. Dann zogen die Verfolger weiter, und es herrschte nur noch Stille. Kurz darauf begann Foraker, in der Finsternis umherzutasten. Flint und Stein schlugen einen Funken, und grelles, gelbes Fackellicht erfüllte die Leere. Sie saßen in einer kleinen Höhle, von der aus eine Steintreppe hinab in den Berg führte.
Foraker schob die Fackel in einen eisernen Wandhalter neben der verschlossenen Tür und machte sich an der verwundeten Schulter des Prinzen zu schaffen. Innerhalb weniger Minuten hatte er den Arm verbunden und in einer provisorischen Schlinge ruhiggestellt.
„Das müßte fürs erste genügen“, murmelte er. „Kannst du laufen?“
Der Elf nickte. „Was ist mit der Tür? Angenommen, die Gnomen entdecken sie?“
„Dann ist es ihr Pech“, schnaubte Foraker. „Die Schlösser müßten halten; wenn aber nicht, wird ein gewaltsames Eindringen den Einsturz des gesamten Eingangs auslösen. Hoch jetzt. Wir müssen los.“
„Wohin führen die Stufen?“
„Hinunter. In die Festung Capaal hinein.“ Er schüttelte den Kopf. „Wir können nur hoffen, daß die anderen auch irgendeinen Weg dorthin finden!“
Er half Edain auf die Beine und zog den unverletzten Arm des Elfen über seine Schulter. Dann schnappte er sich die Fackel aus der Halterung.
„Nun halte dich fest.“
Langsam machten sie sich an den Abstieg.
Der Grenzbewohner Helt fiel kopfüber den steilen Hang hinab, und er verlor beim Sturz alle seine Waffen; der rasende Kampf auf dem Felssims tobte weit droben weiter. Lichter und Stimmen wirbelten an ihm vorüber, vermischten sich zu einem wilden Durcheinander in seinem Kopf und verhallten. Dann wurde sein Sturz unvermittelt gebremst, und er fand sich am Fuße des Abhangs in einem Wirrwarr von Armen und Beinen eingekeilt in einem Gestrüpp wieder. Er blieb eine Minute lang benommen liegen, denn der Aufprall hatte ihm den Atem verschlagen. Dann begann er, sich aus dem Gewirr zu lösen. Erst in diesem Augenblick wurde ihm klar, daß die Arme und Beine nicht alle ihm gehörten.
„Immer mit der Ruhe!“ zischte eine Stimme an seinem Ohr. „Du hast mich schon fast in Stücke geschlagen!“
Der Grenzbewohner zuckte zusammen. „Spinkser?“
„Sei leise!“ mahnte der andere kurz angebunden. „Sie sind überall rundum!“
Helt hob vorsichtig den Kopf und versuchte, seine Benommenheit fortzublinzeln. In der Nähe flackerte Fackellicht auf, und Stimmen hallten kreuz und quer durch die Dunkelheit. Plötzlich wurde ihm klar, daß er auf dem Gnomen lag. Ganz vorsichtig schob er sich herunter und kam im Schatten des Gebüschs etwas wackelig auf die Knie.
„Hast mich direkt mit vom Felssims gerissen“, murmelte Spinkser, und in seiner Stimme vermischten sich Ungläubigkeit und Wut. Der knorrige Körper richtete sich auf, und er spähte vorsichtig aus dem Gesträuch, daß sich in seinen Augen der Feuerschein aus der Ferne widerspiegelte. „Oh, gütige Geister!“ stöhnte er.
Helt duckte sich neben ihn und starrte in die Finsternis. Hinter ihnen ragte der Hang, den sie herabgerollt waren, wie eine Mauer in die Nacht empor. Vor ihnen brannten über Hunderte von Metern in sämtlichen Richtungen die Wachfeuer der Gnomen-Armee, welche die Festung Capaal belagerte, in grellem Lichtschein. Helt betrachtete einen Augenblick lang schweigend die Feuer und ließ sich dann wieder ins Gebüsch fallen; Spinkser tat es ihm nach.
„Wir liegen mitten im Belagerungscamp“, stellte er ruhig fest.
Fackeln beleuchteten bereits das Felssims, von dem sie abgesprungen waren, weit über ihnen, aber in eindeutiger Absicht. Die Gnomen auf dem Felssims würden sie suchen.
„Wir können nicht hierbleiben.“ Helt stand wieder auf und richtete den Blick aus dem Gebüsch auf die Gnomen-Jäger um sie her.
„Na, und was schlägst du vor, wohin wir gehen sollen, Grenzbewohner?“ fragte Spinkser bissig.
Er wiegte langsam den Kopf hin und her. „Vielleicht am Hang entlang...“
„Am Hang? Wir könnten ja auch fliegen!“ Spinkser schüttelte den Kopf. Die Gnomen-Jäger riefen von dem Felssims aus herunter in das Lager. „Da führt kein Weg heraus“, murmelte er verbittert. Er schaute sich einen Augenblick flüchtig um und hielt dann inne.