Jair wich zurück. „Du hättest mich doch früher wecken können...“
„Wie denn?“ platzte der andere heraus. „Woher sollte ich denn wissen, was dir fehlte? Hätte ja alles mögliche sein können! Ich mußte dich doch sicherheitshalber schlafen lassen. Hätte ich vielleicht ein Risiko eingehen sollen? Dieser schwarze Teufel von Waffenmeister hätte mir das Fell über die Ohren gezogen!“
Jair mußte unwillkürlich grinsen. „Nun beruhige dich doch, ja?“
Der Gnom biß die Zähne zusammen. „Ich werde mich beruhigen, sobald du dich aus dem Bett und in deine Kleider bequemst. Hinter der Tür steht ein Wachposten und paßt auf mi ch auf. Aber jetzt, wo du wach bist, können wir ihn vielleicht überreden, uns beide hinauszulassen! Dann kannst du dich auf deine eigenen Kosten amüsieren! Jetzt zieh dich an!“
Mit einem Achselzucken streifte Jair das Nachtzeug ab, das man ihm zur Verfügung gestellt hatte, und begann, seine eigenen Sachen anzuziehen. Er war überrascht, aber erfreut, Spinkser wieder so redselig vorzufinden, auch wenn seine Gesprächigkeit sich zumindest im Moment auf eine Schimpfkanonade gegen den Talbewohner beschränkte. Spinkser schien wieder mehr der alte zu sein, eher wieder der zungenfertige Bursche aus der ersten Nacht, als Jair im Hochland sein Gefangener war - der Bursche, den Jair liebgewonnen hatte. Er war sich nicht ganz sicher, wieso der Gnom sich gerade jetzt entschlossen hatte, aus seinem Schneckenhaus herauszukommen, aber er war erfreut, den alten Spinkser wieder bei sich zu haben.
„Tut mir leid, daß du mit mir hier eingesperrt warst“, getraute er sich nach einer Weile zu sagen.
„Hoffentlich“, brummelte der andere. „Weißt du, sie haben mich hier hereingesteckt, damit ich mich um dich kümmere. Die müssen wohl glauben, ich gäbe ein gutes Kindermädchen ab oder so was.“
Jair grinste. „Ich würde meinen, damit haben sie ja recht.“
Der Ausdruck, der darauf über das Gesicht des Gnomen strich, ließ Jair sich schnell mit versteinerter Miene abwenden. Er kicherte innerlich, und machte sich gerade daran, seine Stiefel heranzuholen, als ihm plötzlich der Sehkristall und der Silberstaub einfielen. Er hatte beim Anziehen keinen der beiden Gegenstände gesehen. Er hatte sie auch nicht in seinen Taschen gefühlt. Das Grinsen, das er sich gestattet hatte, verschwand sogleich aus seinem Gesicht. Er tastete seine Kleider ab. Nichts! Hektisch klopfte er sein Bettzeug, die Laken und alles andere, was herumlag, ab. Die Kristallkugel und der Silberstaub waren fort. Dann dachte er an die vergangene Nacht und den langen Sprung in den Cillidellan zurück. Hatte er sie im See verloren?
„Suchst du etwas?“
Jair erstarrte. Spinkser fragte ihn, und aus seiner Stimme klang geheuchelte Besorgnis. Jair drehte sich um. „Spinkser, was hast du mit...?“
„Ich?“ fiel der andere ihm schnell ins Wort, und gespielte Unschuld zeichnete sein listiges Gesicht. „Dein hingebungsvolles Kindermädchen?“
Jair war wütend. „Wo sind sie, Spinkser? Wo hast du sie hingesteckt?“
Nun war der Gnom an der Reihe zu grinsen. „So vergnüglich das ist — und glaub mir, es ist vergnüglich —, ich habe Besseres zu tun. Falls du den Beutel und den Kristall suchst, die hat der Waffenmeister. Hat sie vergangene Nacht an sich genommen, als sie dich hier hereinbrachten und auszogen. Wollte sie mir natürlich nicht anvertrauen.“
Selbstzufrieden verschränkte er die Arme vor der Brust. „Aber lassen wir das nun. Oder benötigst du auch noch Hilfe beim Ankleiden?“
Jair errötete, zog sich fertig an, trat dann wortlos an die Holztür und klopfte. Als sie geöffnet wurde, erklärte er dem wachestehenden Zwerg, daß sie gerne den Raum verlassen würden. Der Zwerg zog die Stirn kraus, wies sie an, zu warten, warf Spinkser einen mißtrauischen Blick zu und zog die Tür wieder entschieden ins Schloß.
Mit wachsender Neugier, warum draußen nicht gekämpft wurde, und Ungeduld in bezug auf die allgemeine Entwicklung, mußten sie eine geschlagene Stunde warten, ehe die Tür zu dem Zimmer sich ein zweites Mal auftat und der Wachsoldat ihnen winkte, ihm zu folgen. Sie traten schnell aus dem Zimmer, bogen einen fensterlosen Gang hinab, der an Dutzenden von Türen vorüberführte, die mit der identisch waren, die sie gerade hinter sich gelassen hatten, stiegen eine Reihe von Treppen hinauf und gelangten auf eine Brustwehr mit Ausblick auf die trüben Wasser des Cillidellan. Vom See her wehte ihnen Wind und leichte Gischt in die Gesichter, und die Mittagsluft war kalt und beißend. Auch hier herrschte ein stiller, erwartungsvoller Tag, eingehüllt in Nebel und tiefhängende Wolken, die zwischen den Gipfeln dahinzogen, in deren Schutz Schleusen und Dämme lagen. Zwergenposten patrouillierten auf den Mauern und ließen wachsame Blicke durch den Dunst schweifen. Von den Gnomen-Heeren war bis auf das en tfernte Flackern der Wachfeuer als rötliche Lichtflecken inmitten des Grau nichts zu erkennen.
Der Zwerg führte sie von der Brüstung hinab und bog auf einen weiten Innenhof, der die Mitte des hohen Damms überspannte, der den Cillidellan staute. Nördlich und südlich ihres Weges ragten die Türme und Wälle der Zwergenfestung in einen bleiernen Himmel und verloren sich im Nebel. Der Tag verlieh der Zitadelle ein unheimliches, gespenstisches Aussehen und hüllte sie in Zwielicht und Dunst, daß sie fast wie die Ausgeburt eines Traums erschien, die im Augenblick des Erwachens zu verschwinden droht. Hier waren wenige Zwerge zu sehen, der weite Hof lag einsam und verlassen. In regelmäßigen Abständen führten Treppen in den Fels hinab — schwarze Tunnel, die nach Jairs Vermutungen zu den inneren Mechanismen der Schleusen führten.
Sie hatten den Hof fast überquert, als ein Ruf sie herumfahren ließ und Edain Elessedil auf sie zugerannt kam, um sie zu begrüßen. Mit breitem Grinsen und dick verbundenem Arm und Schulter trat er sogleich mit ausgestreckter Hand auf Jair zu.
„So sind wir letztendlich doch wieder gesund und munter beisammen, Jair Ohmsford!“ Er legte seinen gesunden Arm um den anderen, als sie sich umdrehten, ihrem schweigsamen Führer zu folgen. „Ich hoffe, es geht dir jetzt besser?“
„Viel besser.“ Jair erwiderte das Lächeln. „Und was macht dein Arm?“
„Nur ein kleiner Kratzer. Ein bißchen steif, mehr nicht. Aber was für eine Nacht! Ein Glück, daß wir alle gut durchgekommen sind. Und der hier!“ Er deutete auf Spinkser, der einen Schritt hinter ihnen hertrottete. „Sein Entkommen war eine Art von Wunder.
Hat er es dir erzählt?“
Jair schüttelte den Kopf, und sogleich informierte ihn Edain Elessedil über alles, was Spinkser und Helt bei ihrer haarsträubenden Durchquerung des Gnomenlagers in der vorangegangenen Nacht widerfahren war. Jair lauschte mit wachsender Verwunderung und drehte sich mehr als einmal nach dem Gnomen um. Hinter einer Maske bemühter Gleichgültigkeit wirkte Spinkser ein wenig verlegen angesichts all der ihm zuteil gewordenen Aufmerksamkeit.
„Es war der einfachste Ausweg, das ist alles“, erklärte Spinkser barsch, als der überschwengliche Elf seine Erzählung zu Ende gebracht hatte. Jair war klug genug, die Sache nicht weiter aufzubauschen.
Ihr Führer geleitete sie die Treppe zum nördlichen Wachturm hinauf und dann durch zwei Doppeltüren in einen Innenhof voller Pflanzen und Bäume, die in einem künstlich angelegten Beet aus schwarzer Erde unter einem Glasdach unterm freien Himmel gediehen. Selbst hier im Hochgebirge bewahrten die Zwerge etwas von ihrer Heimat, dachte Jair voller Bewunderung.
Hinter dem Garten dehnte sich eine Terrasse, auf der Tische und Bänke standen.
„Wartet hier!“ befahl der Zwerg und ließ sie stehen.
Als er fort war, wandte Jair sich wieder an Edain. „Warum wird heute nicht gekämpft, Elfenprinz? Was ist mit den Gnomen-Heeren?“
Edain Elessedil wiegte den Kopf hin und her. „Keiner weiß so recht, was geschehen ist. Die Schleusen und Dämme werden nun seit fast einer Woche belagert. Jeden Tag stürmten die Gnomen gegen beide freiliegenden Seiten der Festung an. Doch heute ist kein Angriff erfolgt. Die Gnomen versammeln sich an ihren Belagerungslinien und beobachten uns — mehr nicht. Es sieht aus, als warteten sie auf etwas.“