Als sie vor einer eisenbeschlagenen Tür anhielten, die Zugang zum Turm gewährte, schob sich eine Gruppe Zwerge an ihnen vorbei und machte sich an den Abstieg der daneben liegenden Treppe. Sie wurden befehligt von einem grimmig wirkenden Zwerg mit leuchtend rotem Haar und Bart, der eine Rüstung aus Leder und ein Kettenhemd trug.
„Radhomm, der Befehlshaber der Zwerge!“ flüsterte Edain Jair zu.
Eilig drängten sie sich durch die Eichentür in den darunterliegenden Turm, und sperrten das Wetter hinter sich aus, sobald sie drinnen standen. Schwacher Lampenschein durchdrang trübe die Düsternis im Innern, wo eine Handvoll Gestalten in Umhängen vor ihnen aus dem Nichts aufzutauchen schien.
„Tz, der würde immer schlafen, wenn man ihn ließe“, hörte er Spinkser murren.
„Gut, dich wiederzusehen, Jair Ohmsford“, begrüßte ihn eine tiefe Stimme, und Helts massige Hand streckte sich ihm entgegen, um die seine zu ergreifen.
Dann stand Garet Jax vor ihm, so schwarz wie die Nacht um ihn her und so unnachgiebig und unveränderlich wie das Gestein der Berge. Sie sahen einander an, und es fiel kein Wort zwischen ihnen. Das magere Gesicht des Waffenmeisters war angespannt, und er umfaßte Jairs Schultern sanft mit beiden Händen; in seinen Augen strahlte eine eigentümliche, ungewohnte Herzlichkeit. Sie war nur für eine kleine Sekunde zu sehen; in der nächsten war sie schon wieder verschwunden. Die Hände sanken herab, und Garet Jax drehte sich wieder in die Dunkelheit um.
Hinter ihnen wurde die Tür aufgestoßen, und ein völlig vom Regen durchnäßter Zwerg stürzte auf den kleinen Holztisch zu, wo Elb Foraker sich über einen Stapel Karten beugte. Sie unterhielten sich leise und gedämpft; dann war der Melder so schnell verschwunden, wie er gekommen war.
Foraker trat sogleich zu Jair, und die anderen Mitglieder der Gruppe versammelten sich um sie. „Ohmsford“, sagte er ruhig, „man hat mir gerade gemeldet, daß der Mwellret entwichen ist.“
Betroffene Stille trat ein. „Wie konnte das passieren?“ knurrte Spinkser wütend und schob sein derbes Gesicht ins Licht.
„Durch einen Gestaltwandel.“ Foraker wandte kein Auge von Jair. „Er benutzte ihn, sich in einen schmalen Lüftungsschacht zu zwängen, der die unteren Stockwerke versorgt. Es ist irgendwann im Lauf der Nacht geschehen. Niemand weiß, wo er sich jetzt aufhalten mag.“
Jair wurde es eiskalt. Es bestand kein Zweifel daran, was der Zwerg ihm indirekt mit dieser unerfreulichen Neuigkeit mitteilen wollte. Selbst im Gefängnis des Lagerkellers hatte der Mwellret den Elfenzauber gespürt und Jair zwingen können, ihn zu offenbaren. Wenn er nun frei wäre...
„Er wäre jederzeit in der Lage gewesen, sich zu befreien“, meinte Edain Elessedil. „Es muß einen Grund geben, daß er es gerade jetzt getan hat.“
Und ich könnte dieser Grund sein, stimmte Jair ihm insgeheim zu. Foraker ist sich dessen ebenfalls bewußt. Deshalb hat er solchen Wert darauf gelegt, es mir als erstem mitzuteilen.
Garet Jax tauchte wieder aus der Finsternis auf, plötzlich und entschlossen. „Wir brechen sofort auf“, riet er. „Wir haben schon zuviel Zeit verloren. Unsere Mission liegt im Norden. Was immer hier geschehen wird, wir brauchen nicht daran teilzuhaben. Jetzt, wo sich alle Gnomen um den See versammelt haben, müßte es ziemlich einfach sein...“
OOOOOOMMMMMMMMM!
Erschreckt schauten die Mitglieder der kleinen Gruppe sich rasch um. Ein gewaltiger Klageschrei drang tief und qualvoll an ihre Ohren, um dann in der Stille der Dämmerung zu verhallen. Er schwoll an, als ob Tausende von Stimmen ihm Leben verliehen und stieg trotz Regen und Wind hinauf in die Berge um Capaal.
„Gütige Geister!“ schrie Spinkser, dessen derbes, gelbes Gesicht sich verzerrte, als er diesen Schrei erkannte.
Alle sechs stürzten aus der Tür und scharten sich innerhalb von Sekunden um die Zinnen draußen, wo Wind und Regen ihnen entgegenpeitschten, als sie über die Wasser des Cillidellan nach Norden blickten.
OOOOOMMMMMM!
Das Klagen wurde schriller, zu einem langgezogenen, anhaltenden Heulen, das durch die Berghöhen hallte. Rund um die Uferlinie des Cillidellan stimmten Gnomen in den finsteren Gesang ein, und ihre Stimmen vermischten sich zu einer einzigen, als sie sich dem trüben See zuwandten und die Luft mit dem unheilvollen Geräusch erfüllten.
Unten tauchte Radhomm auf der tieferliegenden Brustwehr auf, brüllte Befehle, und Melder liefen nach allen Seiten davon, die er zu seinen Hauptmännern beorderte. Es herrschte hektische Aktivität, als die Garnison sich bereitmachte, allem Bevorstehenden entgegenzutreten. Jairs Hand fuhr zu seinem Hemd, um sich zu vergewissern, daß Silberstaub und Sehkristall noch an ihrem Platz waren.
Garet Jax packte Spinkser am Mantel und zog ihn zu sich heran. „Was geht hier vor?“ In den Augen des Gnomen stand unmißverständliche Angst. „Eine Anrufung... eine Anrufung an die schwarze Magie! Ich habe es schon einmal miterlebt — auf Graumark!“ Der Gnom wand sich in der eisernen Umklammerung. „Doch es bedarf der Nähe der Wandler, Waffenmeister! Sie müssen mitwirken!“
„Garet!“ Foraker riß den anderen grob herum und deutete zum nahen Cillidellanufer, das keine hundert Meter von der Wölbung des Staudamms begann. Der Waffenmeister ließ Spinkser los. Aller Augen wanderten zu der Stelle, auf die der Zwerg deutete.
Zwischen den am Ufer versammelten Gnomen hervor traten drei schwarz verhüllte Gestalten, die sich groß und deutlich von der aufsteigenden Dämmerung abzeichneten.
„Mordgeister!“ flüsterte Spinkser mit belegter Stimme. „Die Wandler sind hier.“
22
Zum Cillidellan kamen die Mordgeister und schwebten ohne erkennbare Bewegung zum Rand des Wassers herab. Mit ihren Kapuzen, unter denen ihre Züge nicht zu erkennen waren, hätten es körperlose Gespenster sein können, hätten nicht schwarzklauige Finger aus ihren Umhängen geragt, die sich mit tödlichem Griff um die knorrigen grauen Stäbe aus poliertem Hexenholz spannten. Der Klageschrei ihrer Gnomen-Anhänger stieg rund um sie auf und mischte sich als Kreischen in das Heulen des Windes; für jene, die von den Zinnen Capaals zusahen, schien es, als hätten sich die Schwarzen Wesen durch das Geräusch materialisiert.
Und dann verstummte das schreckliche Jammern plötzlich, als die Gnomen unvermittelt schwiegen. Das durchdringende Pfeifen des Windes hallte über die öde Weite des Cillidellan, und die Wellen plätscherten, als er über seine Oberfläche strich.
Der vorderste der Mordgeister reckte seinen Stab weit empor, so daß sein skeletthafter schwarzer Arm wie verkohltes Reisig aus der schützenden Robe ragte. Eine seltsame, vibrierende Stille senkte sich über die Berghöhen, und den Verteidigern kam es vor, als hätte sich selbst der Wind gelegt. Dann sank der Stab langsam nieder und deutete auf die geschwärzten Wasser des Sees. Die beiden anderen Stäbe taten es ihm nach, daß das Hexenholz sich berührte und eins wurde in dem Augenblick, da die polierten Spitzen in den Cillidellan eintauchten.
Einen Augenblick lang geschah gar nichts. Dann brachen aus den Stäben rote Feuerspeere, deren Flammen in den See hinabschossen und durch seine kühle Finsternis brannten und sengten. Die Wasser wogten und brausten und begannen schließlich zu brodeln. Gnomen kreischten in einer Kakophonie aus Jubel und Angst und taumelten vom Rand des Wassers zurück.
„Das ist die Anrufung!“ schrie Spinkser.
Das rote Feuer loderte durch die trübe, undurchdringliche Schwärze hinab in den tiefsten Winkel des Sees, zu dem sonst niemals Licht hindurchdrang. Wie ein Blutfleck breitete sich der Schein dieser Flammen suchend im Wasser aus. Dampfgey sire brachen mit heftigem Zischen himmelwärts auf, und der ganze See begann zu kochen.
Die Verteidiger auf den Brustwehren der Zwergenfestung standen reglos vor Unentschlossenheit. Etwas würde geschehen, etwas Unaussprechliches, und niemand wußte, wie es aufzuhalten war.
„Wir müssen hier raus!“ riet Spinkser Garet Jax dringlich. Aus seinem Blick sprach Furcht, aber auch gesunder Menschenverstand. „Schnell,, Waffenmeister!“