Doch dann fand der Mordgeist seinen Halt wieder. Eine Krallenhand packte die Pfeile, die in ihm steckten und zog sie mühelos heraus. Das Ungeheuer hielt sie empor, damit alle sie sehen konnten, und zerbrach sie zu Splittern. Dann fuhr der Hexenholzstab in die Höhe, und rote Flammen schössen aus seiner Spitze. Rund um die Wehrgänge loderte Feuer auf und schoß gleichermaßen in Gestein und Verteidiger; Helt und Foraker wichen zurück, als die Flammen sie erreichten, und gingen in einer Lawine von heruntergebrochenem Mauerwerk und Staub unter.
Jair wollte wütend hinzustürzen, aber Spinkser riß ihn herum. „Du kannst nichts tun, um ihnen zu helfen, Junge!“ Ohne irgendein Gegenargument in dieser Frage abzuwarten, zerrte er Jair über die Wälle zu der Steintreppe, die nach unten führte. „Fang lieber an, dir Sorgen um dich selbst zu machen! Wenn wir vielleicht schnell genug sind...“
Dann erblickte er den Kraken. Der hatte sich an der Mitte der Staumauer, wo der breite Innenhof die beiden Festungsteile zu den jeweiligen Enden des Damms vereinigte, aus dem Wasser gehievt, und seine Tentakel und Flossenbeine tasteten über den Stein. Sobald er so weit oben war, daß nur noch der hinterste Teil seines faßartigen Rumpfes im See hing, schwenkte er langsam herum zu der Stelle, wo die Zwergenverteidiger versuchten, aus dem nördlichen Festungsteil zu entkommen . Tentakel ergossen sich als wimmelnde Masse über die Mitte des Staudamms. Innerhalb von Sekunden war der Durchgang völlig blockiert.
„Spinkser!“ schrie Jair warnend und fiel auf die Steinstufen zurück, als ein riesenhafter Fangarm an seinem Kopf vorüberfuhr. Sie rannten wieder die Treppe hinauf, duckten sich in den Schutz der Balustrade, wo diese an die Zinnen stieß. Gischt vom Seewasser, von der Schwanzflosse des Ungeheuers aufgerührt, mischte sich mit Staub und zerschlagenem Gestein und regnete auf sie herab. Unten tasteten und hämmerten die Tentakel des Kraken um die Festungsmauer und packten alles, was in ihre Reichweite kam.
Einen Augenblick lang sah es so aus, als sei jede Chance, wieder über den Innenhof zu entkommen, dahin. Doch dann setzten die Zwerge zum Gegenangriff an. Sie stürzten von den unteren Stockwerken der Burg aus verdunkelten Treppenfluchten und den Geheimgängen darunter. Allen voran stürmte der Zwergenkommandeur Radhomm. Mit wehenden roten Haaren führte er seine Soldaten in das Gewirr der riesigen Arme und schlug und hieb mit der Breitaxt hinein. In einem Schwall von Blut flogen Stücke und Fetzen des Kraken durch die Luft, und rötliches Wundsekret ergoß sich über das feuchte Gestein des Staudamms. Doch der Krake war ein monströses Tier, für das die Zwerge kaum mehr als lästige Mücken waren, die es zu vertreiben galt. Die Tentakel fuhren herab und zermalmten die winzigen Geschöpfe, die um ihn herumwimmelten, so daß sie leblos liegenblieben. Die Verteidiger gaben nicht auf und waren entschlossen, jenen den Weg freizukämpfen, die in dem eroberten Burgteil festsaßen. Aber der Krake wischte sie so schnell fort, wie sie auftauchten, und sie sanken sterbend um das Ungeheuer zu Boden.
Schließlich erwischte der Krake Radhomm, als der Zwergenkommandeur einen Durchbruch erkämpfen wollte. Das Ungeheuer schwenkte den rothaarigen Zwerg hoch in die Luft, die Breitaxt, die mit hartnäckiger Verbissenheit immer noch auf ihn niedersauste, ließ ihn völlig unbeeindruckt. Der Krake riß Radhomm in die Höhe; dann schleuderte er ihn mit erschreckender Plötzlichkeit auf die Steine nieder, wo er zerschmettert, verkrümmt und leblos liegenblieb.
Spinkser zerrte vergeblich an Jair. „Lauf!“ schrie er verzweifelt.
Tentakel zuckten an ihnen vorüber, hämmerten in die Zinnen und zerschlugen den Stein, daß er in alle Richtungen spritzte. Ein Hagel splitteriger Bruchstücke prasselte auf Talbewohner und Gnom nieder, schleuderte sie ausgestreckt zu Boden und begrub sie fast unter dem Schutt. Jair schüttelte benommen den Kopf, rappelte sich in die Höhe und taumelte nach vorn an die Steinbalustrade. Unten hatten sich die Zwerge, entmutigt durch den Tod von Radhomm, in die belagerte Festung zurückgezogen. Der Krake hing immer noch mit gespreizten Tentakeln über dem verwüsteten Innenhof und schob sich nun näher an die Mauern heran, auf denen Jair kauerte. Der Talbewohner wollte schon zurückweichen, blieb dann aber entsetzt stehen. Spinkser lag benommen zu seinen Füßen, Blut sickerte aus einer tiefen Schnittwunde an seinem Kopf.
Dann tauchte unten, scheinbar aus dem Nichts, Garet Jax auf. Er wirkte mager und schwarz im grauen Licht der Dämmerung, als er pfeilschnell aus dem Schutz der Brustwehr auf der Staumauer mit einem kurzen Speer in Händen vorgeschossen kam. Jair schrie auf, als er ihn sah — es war ein unvermittelter, gellender Schrei —, doch der Laut verlor sich im Klagen des Windes und im Kampfgeheul. Der Waffenmeister raste als kleine, behende Gestalt über die ganze blutgetränkte Länge des Staudamms — nicht etwa weg von den todbringenden Fangarmen des Kraken, sondern geradewegs auf sie zu. Er flitzte und huschte dahin wie ein körperloser Schatten und zielte auf den klaffenden Rachen des Ungeheuers. Die Tentakel peitschten herab, schlugen nach ihm, verfehlten ihn, glitten an ihm vorüber und waren viel zu langsam für jemanden so unglaublich Schnelles. Aber ein Ausrutscher, ein Fehltritt...
Der Waffenmeister sprang nach dem gekrümmten Schnabel, direkt auf die Kiefer der Bestie zu. Er stieß mit verblüffender Geschwindigkeit zu, und der kurze Speer bohrte sich tief ins weiche Gewebe des geöffneten Mauls. Sofort fielen die Tentakel herab, und ein Ruck durchfuhr den riesenhaften Körper. Doch Garet Jax war schon wieder in Bewegung, wirbelte zur Seite und tauchte unter der Falle hinweg, die über ihm zuschnappen wollte. Sowie der Waffenmeister sich wieder hochgerappelt hatte, riß er auch schon eine Lanze mit Eisenspitze an sich, deren Besitzer noch mit lebloser Hand den Schaft umklammert hielt. Mit einer raschen Drehung entwand Garet Jax die Waffe seinem Griff. Zu spät erblickte der Krake seinen neuerlichen, gefährlichen Angreifer kaum zwei Meter von einem seiner lidverdeckten Augen entfernt. Die Lanze mit der Eisenspitze schoß nach oben in das ungeschützte Auge, durchbohrte Haut und blutiges Fleisch und stieß schließlich durch Knochen bis ins Gehirn.
Der getroffene Krake zuckte sichtbar unter Schmerzen zurück, und seine Flossenbeine flatterten wie rasend. Steinbrüstungen brachen rund um das Tier, als es versuchte, wieder in die Wasser des Cillidellan einzutauchen. Doch Garet Jax hing immer noch an der Lanze, die sich ins Gehirn des Ungeheuers gebohrt haue, und stieß sie tiefer und tiefer und wartete darauf, daß die Lebenskraft des Tieres sich endlich erschöpfte. Doch der Krake war unglaublich stark. Er hievte sich in die Höhe, hob sich vom Staudamm, fiel dann laut klatschend in den Cillidellan und tauchte außer Sicht. Garet Jax, dessen Hände immer noch den Lanzenschaft umfaßten, wurde mit in die Tiefe gerissen.
Jair taumelte fassungslos und ungläubig gegen die zerschmetterte Balustrade zurück, sein wütender Aufschrei erstarb lautlos in seiner Kehle. Drunten lag der Staudamm wieder frei, und die eingekesselten Zwerge strömten aus ihrer Falle, um sich zur sicheren Südfeste hinüberzuretten. Dann taumelte Spinkser neben ihm wieder in die Höhe. Das furchige, gelbe Gesicht war mit Blut verschmiert, doch der Gnom wischte es wortlos weg und zerrte den Talbewohner hinter sich her die Treppe hinab. Wankend und stolpernd gelangten sie schließlich auf den Innenhof und setzten sich in die gleiche Richtung wie die fliehenden Zwerge in Bewegung.
Doch sie kamen zu spät. Auf beiden Seiten der Wehrgänge hinter ihnen waren Gnomenjäger aufgetaucht. Als heulende, schreiende Menge gepanzerter, blutbesudelter Figuren ergossen sie sich über den Kamm der Staumauer und strömten in den Hof hinunter. Spinkser warf schnell einen Blick zurück und riß Jair unvermittelt in einen der dunklen Schächte. Sie rasten mehrere lampenerleuchtete Treppenabsätze hinab, tief ins Dunkel der unteren Stockwerke, die zu den Getrieben der Schleusen führten, über ihnen verhallte langsam der Lärm der Verfolgungsjagd.