Als sie am Fuße der Treppe angelangt waren, standen sie in einem schummrig erleuchteten Gang, der über die ganze Länge des Dammes führte und sich in der Ferne verlor. Spinkser zögerte, wandte sich dann nach Norden und zog Jair hinter sich her.
„Spinkser!“ schrie der Talbewohner auf und versuchte verzweifelt, den Gnom aufzuhalten. „Hier geht es zurück in die Richtung, aus der wir kommen — weg von den Zwergen!“
„Die Gnomen werden auch in die andere Richtung laufen!“ keifte Spinkser. „In dieser Richtung werden sie doch nicht nach Zwergen oder sonst jemanden suchen, oder? Nun lauf!“
Sie rannten ins Dunkel und stolperten erschöpft den verlassenen Gang hinab. Das Schlachtengetöse war nun weit entfernt, im Gegensatz zum ständigen Ächzen der Maschinen und dem leisen Rauschen der Wasser vom Cillidellan. In Jairs Kopf drehte sich alles vom Schock dessen, was ihnen widerfahren war. Die kleine Gruppe aus Culhaven bestand nicht mehr: Helt und Foraker von schwarzen Wandlern niedergestreckt, Garet Jax vom Kraken in die Tiefe gerissen und Edain Elessedil verschollen. Nur Spinkser und er waren übriggeblieben — und sie liefen um ihr Leben. Capaal war gestürmt, den Gnomen anheimgefallen. Die Schleusen und Dämme, die den Strom des Silberflusses westwärts in die Heimat der Zwerge regulierten, waren in den Händen ihrer unerbittlichsten Feinde. Alles war verloren.
Seine Lungen preßten sich unter der Anstrengung des Laufens zusammen, sein Atem klang ihm mühsam und keuchend in den Ohren. Tränen brannten ihm in den Augen, und sein Mund war trocken geworden vor Bitterkeit und vor Wut. Was sollte er jetzt tun? Wie sollte er zu Brin gelangen? Er würde sie niemals finden, ehe sie den Maelmord betrat, was unweigerlich ihr Ende bedeutete. Wie sollte er den Auftrag erfüllen, mit dem ihn der König betraut hatte...?
Plötzlich gaben seine Beine unter ihm nach, wurden ihm weggerissen von irgend etwas, das er nicht gesehen hatte, so daß er bäuchlings in die Finsternis stürzte. Spinkser vor ihm lief achtlos weiter und war nur noch als Schatten in der Dunkelheit des Tunnels zu erkennen. Eilends rappelte Jair sich wieder hoch. Spinksers Abstand zu ihm wurde viel zu groß.
Dann schoß ein Arm aus der Finsternis, und eine rauhe, schuppige Hand schloß sich über seinem Mund, daß ihm fast die Luft wegblieb. Ein zweiter Arm schlang sich eisenhart um seinen Körper, und er wurde zurückgezerrt ins Dunkel einer offenen Tür.
„Bleibt, kleines Kerlchen“, zischte eine Stimme. „Wir sssind Freunde, wir, die wir uns auf die Zauberei verssstehen. Freunde.“
Durch Jairs Kopf hallte ein lautloser Schrei.
Der halbe Vormittag war schon um, als Spinkser sich aus dem Fluchttunnel der Zwerge zwängte und sich durch ein Dickicht von Sträuchern schob, die den Geheimeingang verdeckten, um alleine auf den windgepeitschten Berghöhen nördlich von Capaal zu stehen. Graues, dunstiges Licht sickerte von einem bewölkten, regentriefenden Himmel herab, und die eisige Luft hing noch in den Gesteinswänden des Gebirges. Der Gnom schaute sich vorsichtig um, dann duckte er sich ins Gebüsch und kroch zu der Stelle, wo der Hang in die Schlucht hinabfiel.
Weit unten wimmelten Gnomen um die Dämme und Schleusen von Capaal. Überall auf den breiten Steinmauern, um die Wälle und Brüstungen der Festung und tief in der Maschinerie der Anlage huschten Gnomen-Jäger wie Ameisen umher, die geschäftig ihren Hügel instandhielten.
Nun, so mußte es ja enden, dachte Spinkser. Er schüttelte zur schweigenden Mahnung den Kopf mit dem derben, gelben Gesicht. Niemand vermochte den schwarzen Wandlern standzuhalten. Capaal gehörte nun ihnen. Die Belagerung war erfolgreich zu Ende geführt.
Er erhob sich langsam, sein Blick ruhte immer noch auf der Szene unten. Es bestand kaum Gefahr, hier oben entdeckt zu werden. Die Gnomen befanden sich alle in der Festung, und was von der Zwergen-Armee noch übrig war, hatte sich südwärts nach Culhaven geflüchtet. Ihm blieb nichts weiter, als seiner Wege zu gehen.
Nichts anderes hatte er schließlich die ganze Zeit über gewollt.
Und doch verharrte er hier stehend und grübelte über unbeantwortete Fragen. Er wußte immer noch nicht, was aus Jair Ohmsford geworden war. Zuerst hatte der Talbewohner sich direkt hinter ihm befunden; und dann war er einfach weg, wie vom Erdboden verschluckt. Spinkser hatte natürlich nach ihm gesucht; es hatte nicht die geringste Spur gegeben. Also war der Gnom schließlich alleine weitergegangen — was hätte er sonst machen können?
„Der Junge hat ohnehin zuviel Schwierigkeiten gemacht!“ murmelte er gereizt vor sich hin. Doch irgendwie klangen diese Worte nicht überzeugend.
Er seufzte, schaute nach oben zum grau bezogenen Himmel und drehte sich langsam um. Nun, da der Talbewohner verschwunden und der Rest der kleinen Gruppe tot oder zerstreut war, erübrigte sich freilich die Weiterreise zum Himmelsbrunnen. Um so besser. Es war von Anfang an eine törichte, sinnlose Unternehmung gewesen. Er hatte es ihnen immer wieder gesagt — ihnen allen. Sie hatten keine Vorstellung, mit wem sie es da aufnahmen; sie hatten keine Ahnung von der Macht der Wandler. Es war nicht seine Schuld, daß sie gescheitert waren.
Das Stirnrunzeln grub sich tiefer in sein derbes Gesicht. Nichtsdestoweniger mißfiel es ihm, nicht herausgefunden zu haben, was aus dem Jungen geworden war.
Er schlüpfte wieder in das Gebüsch, das den Geheimgang zum Tunnel verdeckte, und kletterte auf einen Felsvorsprung, von dem aus man das Ostland und seine Ausläufer nach Westen hin überschauen konnte. Zumindest war er schlau genug gewesen, sich auf seine eigene Flucht vorzubereiten, dachte er selbstgefällig. Aber das lag daran, daß er ein Überlebenskünstler war, und die nahmen sich immer die Zeit, einen Fluchtweg auszukundschaften — außer völlig Verrückte wie Garet Jax. Spinksers Stirnrunzeln wurde zu einem schwachen Lächeln. Er hatte vor langer Zeit gelernt, sein Leben nicht unnötig und grundlos aufs Spiel zu setzen. Er hatte vor langer Zeit gelernt, immer ein Auge auf die nächste Fluchtmöglichkeit eines jeden Orts zu werfen, an dem er sich aufhielt. Als der Zwerg so freundlich gewesen war, ihm Karten der unterirdischen Tunnel zur Verfügung zu stellen, die sie nach Norden hinter die Belagerungsarmee bringen sollten, hatte er sie sich rasch eingeprägt. Deshalb stand er jetzt lebendig und unversehrt hier draußen. Wenn die übrigen nicht so töricht gewesen wären...
Der Wind blies ihm rauh und bitter aus den Felsen ins Gesicht. Weit nach Norden und Westen hin zogen sich die Wälder des Anar in herbstlichen Farben, die nur durch Nebel und Regen gedämpft schienen. Er hatte ein gutes Stück Weg vor sich, dachte er finster.
Zurück ins Grenzland, wo es noch so etwas wie Vernunft und Frieden gab, wo er sein altes Leben wieder aufnehmen und die ganzen Geschehnisse hier vergessen könnte. Er war wieder frei und konnte nun gehen, wohin er wollte. Eine Woche, maximal zehn Tage, und das Ostland und der Krieg, der hier to bte, lägen weit hinter ihm.
Er trat mit dem Stiefel gegen das Gestein. „Aber dieser Junge hatte wirklich Mumm“, sagte er ruhig, als seine Gedanken wieder abschweiften.
Unentschlossen starrte er hinaus in den Regen.
23
Spät am Nachmittag des Tages, den das Verschwinden von Paranor aus der Welt der Menschen kennzeichnete, versank ganz Callahorn von den Streleheim-Ebenen südwärts bis zum Regenbogensee unter schweren Herbstregenfällen. Die Unwetter peitschten über die Grenzgebiete, über Wald- und Weideland, über die Drachenzähne und den Runne hinweg, um schließlich über der weiten Fläche der Rabb-Ebene niederzugehen. Und hier holten sie Allanon, Brin und Rone Leah auf ihrem Weg ostwärts in den Anar ein.
Sie lagerten in dieser Nacht im spärlichen Schutz einer gebrochenen, von vielen verstrichenen Jahreszeiten zerzausten Eiche und waren zusammengekauert in ihren vollgesogenen Mänteln den Regengüssen ausgesetzt. Öde und kahl dehnte sich die Rabb-Ebene nach allen Seiten, während die Gewitter über sie hinwegbrausten und die Blitze mit grellem Zucken die Einsamkeit des Flachlandes offenbarten. Kein anderes Lebewesen war auf der aufgesprungenen, windgepeitschten Fläche zu erkennen; sie waren ganz allein. Sie hätten in dieser Nacht weiterziehen können, hätten bis zur Dämmerung ostwärts reiten und damit den Anar erreichen können, ehe sie Halt gemacht hätten, doch der Druide sah, daß der Hochländer und das Talmädchen erschöpft waren, und hielt es für besser, sie nicht weiterzutreiben.