Sie ritten durch das ruhige, verschlafene Dorf und hielten ihre Pferde hinter einem großen, weitläufigen Gebäude an, das als Ausbildungszentrum diente. Die weißgekleideten Störs erschienen, als hätten sie auf die drei gewartet. Schweigsam und unbeteiligt führten ein paar die Pferde weg, während drei andere Brin, Rone und Allanon nach drinnen durch dunkle, schlecht beleuchtete Gänge zu verschiedenen Zimmern geleiteten. Dort erwarteten sie heiße Bäder, saubere Kleider, Essen und frisch bezogene Betten. Die Störs sprachen nicht ein Wort, während sie sich der Aufgabe widmeten, ihre Gäste zu versorgen. Wie Gespenster verweilten sie noch ein paar wenige Minuten und waren dann verschwunden.
Sobald Brin alleine in ihrem Zimmer war, badete sie, kleidete sich frisch an und verzehrte ihr Essen selbstvergessen in ihrer Erschöpfung und der Einsamkeit in ihrem Innern. Dunkelheit brach über das Waldgebiet herein, und Schatten strichen über die verhängten Fenster, als das Tageslicht zur Dämmerung verblaßte. Das Talmädchen beobachtete das Verlöschen des Lichts mit schläfriger, wehmütiger Gleichgültigkeit und kostete die Behaglichkeiten aus, die sie seit dem Verlassen des Tales vermißt hatte. Eine Zeitlang gelang es ihr, sich einzureden, sie wäre wieder zu Hause.
Doch als der Abend weiter herniedersank, ertönte ein Klopfen an der Tür, und ein weißgekleideter Stör winkte ihr, ihm zu folgen. Sie ging widerspruchslos mit. Sie wußte ohne zu fragen, daß Allanon sie gerufen hatte.
Sie fand ihn in seinem Zimmer am Ende des Ganges; Rone Leah saß bereits neben ihm an einem kleinen Tisch, auf dem eine Öllampe brannte, um die nächtliche Finsternis zu vertreiben. Wortlos wies der Druide auf den dritten Stuhl, und das Talmädchen trat hinzu, um Platz zu nehmen. Der Stör, der sie hergeführt hatte, wartete, bis sie saß, dann drehte er sich um, schwebte aus dem Zimmer und schloß die Tür leise hinter sich.
Die drei Gefährten schauten einander schweigend an. Allanon rückte auf seinem Stuhl hin und her, sein dunkelhäutiges Gesicht wirkte hart und entschlossen, sein Blick verlor sich in Welten, welche das Talmädchen und der Hochländer nicht wahrnehmen konnten.
Er sah alt aus heute abend, dachte Brin und wunderte sich, wie das möglich war. Niemand hatte Allanon altern gesehen bis auf ihren Vater, und das war kurz vor dem Zeitpunkt gewesen, da der Druide vor zwanzig Jahren aus den Vier Ländern verschwunden war. Doch jetzt stellte sie es auch fest. Er war im Vergleich zu seinem Aussehen bei ihrer ersten Begegnung in Shady Vale älter geworden. Sein langes, dunkles Haar war grauer, sein mageres Gesicht faltiger und ausgezehrter, sein Blick niedergeschlagener und ernster. Die Zeit arbeitete gegen den Druiden, wie sie gegen sie alle arbeitete.
Die schwarzen Augen suchten ihren Blick. „Ich möchte euch jetzt von Brimen erzählen“, erklang seine tiefe Stimme leise, und er verschränkte die knotigen Hände vor sich.
„Vor langer Zeit, zur Epoche der Druidenratsversammlungen auf Paranor zwischen den Rassenkriegen, sah Brimen die Vorgänge um die Magie voraus. Brona, der später Dämonen-Lord werden sollte, hatte Jahre zuvor die Geheimnisse entschlüsselt und war ihnen zum Opfer gefallen. Der aufrührerische Druide wurde von dem, das er zu meistern erhofft hatte, verzehrt und versklavt. Nach dem Ersten Krieg der Rassen glaubte der Rat, er wäre vernichtet worden, doch Brimen begriff, daß das nicht stimmte. Brona lebte mit Hilfe der Magie weiter und wurde durch deren Macht und deren Erfordernisse getrieben. Die Wissenschaften der alten Welt waren in den katastrophalen Wirren der Großen Kriege verloren gegangen. An ihrer Stelle erstand die Magie einer noch älteren Welt, einer Welt, in der einst Feengeschöpfe gelebt hatten. Brimen sah, daß diese Zauberei die neue Welt der Menschen erhalten oder vernichten konnte.
So widersetzte Brimen sich dem Rat, wie Brona es vor ihm getan hatte — wenngleich mit größerer Vorsicht gegenüber dem, was da auf ihn zukam —, und begann, sich die Geheimnisse der Macht zu erschließen, die der abweichlerische Druide offengelegt hatte. Da er auf die mögliche Rückkehr des Dämonen-Lords vorbereitet war, konnte er sich retten, als alle anderen Druiden vernichtet wurden. Es wurde zu seiner Mission, dem einzigen und unumstößlichen Sinn seines Lebens, die Macht zu erlangen, die der Böse freigesetzt hatte, sie zu beherrschen und dorthin wegzuschließen, wo niemand mit ihr herumspielen könnte. Das war keine leichte Aufgabe — doch eine, der er sich ganz hingab. Die Druiden hatten die Magie entfesselt, nun lag es an ihm, dem letzten der Druiden, sie wieder in die Gewalt zu bekommen.“
Allanon machte eine Pause. „Er beschloß, dazu das Schwert von Shannara zu schmieden, eine Waffe von altem Elfenzauber, die den Dämonen-Lord und die Schädelträger, die ihm dienstbar waren, vernichten konnte. In der schwärzesten Stunde des Zweiten Krieges der Rassen, da alle Vier Länder durch die Armeen des Bösen bedroht waren, schmiedete Brimen mit Hilfe der Magie und der von ihm erworbenen Kenntnisse und Fertigkeiten das berühmte Schwert. Er gab es dem Elfenkönig Jerle Shannara. Mit diesem Schwert wollte der König im Kampf gegen den abweichlerischen Druiden antreten und ihn vernichten.
Doch wie ihr wißt, scheiterte Jerle Shannara an dieser Aufgabe. Da es ihm nicht gelang, die Macht des Schwertes voll zu beherrschen, ließ er den Dämonen-Lord entkommen. Zwar wurde die Schlacht gewonnen und die Heere des Bösen vertrieben, doch Brona war am Leben geblieben. Jahre würden vergehen, ehe er zurückkehren konnte, doch er würde zurückkehren. Brimen wußte, daß er dann nicht mehr am Leben wäre, um sich Brona entgegenzustellen. Doch er hatte ein Gelübde abgelegt, und Brimen war nicht der Mann, einen Schwur zu brechen.“
Die Stimme des Druiden war nur noch ein Flüstern, und heftiger Schmerz stand im Blick der schwarzen, undurchdringlichen Augen. „Daraufhin unternahm er drei Dinge. Er erwählte mich zu seinem Sohn, zu der leiblichen Nachkommenschaft der Druidenlinie, um die Vier Länder zu durchwandern, bis der Lord der Finsternis wiederkäme. Er verlieh erst sich und später auch mir zusätzliche Lebenskraft mit Hilfe des lebenserhaltenden Schlafes, damit ein Druide der Menschheit gegen den Dämonen-Lord beistehen konnte, solange es notwendig wäre. Und schließlich unternahm er noch etwas Zusätzliches. Als die Zeit seines Ablebens bevorstand und er sich nicht durchringen konnte, alles aufzugeben, nutzte er die Zauberkraft zu einer letzten, schrecklichen Beschwörung. Er band seinen Geist an diese Welt, auf der sein Körper nicht fortdauern konnte, so daß er über sein Lebensende hinaus die Erfüllung des Gelübdes, das er abgelegt hatte, verfolgen konnte.“
Knorrige Hände ballten sich zu Fäusten. „Er band sich, seinen körperlosen Geist, an mich! Er benutzte die Magie, um diese Bindung vom Vater an den Sohn zu schaffen, verbannte seinen Geist in eine Welt der Finsternis, wo Vergangenheit und Zukunft aneinanderstoßen und Anrufungen möglich waren, wenn die Notwendigkeit bestand. Das hat er sich selbst auferlegt: ein einsames und verzweifeltes Wesen zu werden, das erst frei würde, wenn beide dahingeschieden wären...“
Er verstummte plötzlich, als wären seine Worte über das hinausgegangen, was er eigentlich hätte sagen wollen. In diesem Augenblick wurde Brin klar, was er ihr bislang vorenthalten hatte; sie erfaßte mit einem raschen Blick das Geheimnis, das er ihr im Schiefertal verschwiegen hatte, nachdem Brimen aus dem Hadeshorn aufgestiegen war und die Zukunft vorhergesagt hatte, und das verlieh den Einflüsterungen ihrer Vorahnungen Gestalt.
„Einmal glaubte ich schon, es wäre vollbracht“, fuhr Allanon fort und überging die plötzliche Pause. „Ich glaubte, es wäre vollbracht, als Shea Ohmsford den Dämonen-Lord vernichtete — als der Talbewohner das Geheimnis des Schwertes von Shannara löste und sich zu seinem Meister aufschwang. Aber ich habe mich getäuscht. Die schwarze Magie starb nicht mit dem Dämonen-Lord. Und sie wurde auch nicht weggeschlossen, wie Brimen das gelobt hatte. Sie überlebte wohlbehalten in den Seiten des Ildatch, und wurde in den Tiefen des Maelmords versteckt, um auf neue Entdecker zu warten. Und die kamen auch schließlich.“