Vielleicht.
Er stand wieder vom Tisch auf und schwebte als nächtlicher Schatten aus der Reichweite des Lichts. Ein plötzlicher Lufthauch, und die Lampe verlöschte.
Er hatte dem Mädchen aus Shady Vale und dem Hochländer soviel mehr offenbart als allen anderen. Und doch hatte er ihnen längst noch nicht alles erzählt.
24
Der Tag brach über dem Ostland und den Wäldern des Anar an, und die drei, die von Shady Vale gekommen waren, setzten ihre Reise fort. Durch die Heiler von Storlock mit neuem Proviant versehen, ritten sie in östlicher Richtung aus dem Dorf in das dahinterliegende Waldland. Nur wenige wohnten ihrem Aufbruch bei. Eine Handvoll weißgekleideter, schweigsamer Störs mit traurigen Mienen versammelte sich bei den Ställen hinterm Zentrum und winkte ihnen zum Abschied nach. Innerhalb von Minuten waren die drei zwischen den Bäumen verschwunden und so still und rätselhaft fort, wie sie gekommen waren.
Es war jene Art von freundlichem Herbsttag, wie die Erinnerung an eine vergangene, mildere Jahreszeit ihn hätschelt, wenn ringsum tiefer Schnee liegt. Er war warm und sonnig, die Farben des Waldes strahlten und funkelten im weichen Licht, und süße, angenehme Morgendüfte hingen in der Luft. So dunkel und frostig die vergangenen Tage unter der Nachwirkung der Herbststürme gewesen sein mochten, dieser war fröhlich und tröstlich mit strahlend blauem Himmel und Sonnenschein.
Dieser vielversprechende Tag vermochte jedoch weder Brin Ohmsford noch Rone Leah aufzuheitern. Unter dem Eindruck von Allanons düsterer Verheißung und der Spannung darauf, was sie erwartete, konnte keiner von ihnen so recht die Wärme genießen, die der Tag zu bieten hatte. Verschlossen und in sich gekehrt, hüllte sich jeder in seine persönlichen Gefühle und heimlichen Gedanken; das Talmädchen und der Hochländer ritten in verbissenem Schweigen durch die gesprenkelten Schatten der großen, dunklen Bäume und empfanden nur die Kälte, die sich tief in ihrem eigenen Innern eingenistet hatte.
„Unser Weg wird von hier an ziemlich tückisch werden“, hatte Allanon mit leiser und eigentümlich sanfter Stimme angekündigt, als sie sich an diesem Morgen an den Ställen getroffen hatten. „Im ganzen Ostland und den Wäldern des Anar werden die Geister nach uns Ausschau halten. Sie wissen, daß wir kommen; Paranor hat in dieser Frage alle Zweifel beseitigt. Und sie wissen auch, daß sie uns aufhalten müssen, ehe wir den Maelmord erreichen. Gnomen werden uns suchen, und wo sie es nicht tun, werden andere, die den schwarzen Wandlern dienstbar sind, hinter uns herspüren. Kein Weg ostwärts ins Rabenhorn wird für uns sicher sein.“
Seine Hände hatten sich auf ihre Schultern gelegt und zogen sie nahe zu ihm heran. „Aber wir sind nur zu dritt und nicht so leicht zu finden. Die Geister und ihre Gnomen-Beobachter werden zwei Wege bewachen — im Norden den über den Rabb-Fluß und den, welcher im Süden über Culhaven führt. Da diese Wege ansonsten gefahrlos und bequem sind, sind sie es, für die ein kluger Mann sich entscheiden würde. Und genau deshalb werden wir keinen der beid en wählen. Statt dessen nehmen wir die gefährlichste Strecke — gefährlich nicht nur für uns, sondern auch für sie. Wir ziehen direkt nach Osten in den Zentral-Anar — durch das Wolfsktaag-Gebirge, Dunkelstreif und Altmoor. In diesen Gebieten sind ältere Zauberkräfte als die ihren zu Hause — Zauberkräfte, die sie nur ungern heraufbeschwören werden. Das Wolfsktaag-Gebirge darf von Gnomen nicht betreten werden, und sie werden keinen Fuß hineinsetzen, nicht einmal, wenn die Geister es befehlen. Dort hausen Wesen, die gefährlicher sind als die Gnomen, denen wir auszuweichen suchen, doch sie haben sich weitgehend verkrochen. Wenn wir schnell und vorsichtig vorgehen, müßten wir unversehrt passieren können. Dunkelstreif und Altmoor sind der Sitz anderer Zauberkräfte, doch dort finden wir vielleicht welche, die unserer Sache freundlicher gesonnen sind als der ihren...“
Sie ritten am Westrand des Zentral-Anar entlang hinauf in die höhergelegenen Gegenden, welche die Schwelle zu den zerklüfteten, bewaldeten Gipfeln des Wolfsktaags bildeten. Unterwegs hielten sie zwischen Sonnenschein und Wärme und den strahlenden Herbstfarben nach den unheilbringenden Dingen Ausschau, die sich dort versteckt hielten. Gegen Mittag waren sie an den Jadepaß gelangt und machten sich an den langwierigen, weitläufigen Aufstieg seines Südhangs, wo Bäume und Sträucher sie vor neugierigen Blicken schützten, wenn sie ihre Pferde durch die tiefen Schatten lenkten. Gegen Mitte des Nachmittags befanden sie sich ostwärts vom Paß und bahnten sich ihren serpentinenreichen Weg zu den hohen Gipfelnd Gehölz und Gestein dehnten sich finster und schweigend um sie her, als das Tageslicht allmählich nachließ. Noch vor Anbruch der Nacht befanden sie sich hoch im Gebirge. Zwischen den Bäumen, wo sie ritten, huschten jetzt Schatten wie lebendige Wesen umher. Sie hielten die ganze Zeit Ausschau,, konnten jedoch kein Anzeichen für andere Lebewesen erkennen und hatten das Gefühl, hier alleine zu sein.
Es war eigentümlich und irgendwie erschreckend, daß man so alleine sein konnte, dachte Brin, als die Dämmerung über die Berge herniedersank und der Tag sich seinem Ende zuneigte. Sie müßten wenigstens eine Spur anderen Lebens gefühlt haben, doch es war, als wäre alles Leben in diesen Bergen und Wäldern erloschen. Keine Vogel zwitscherten in diesen Bäumen, keine Insekten schwirrten herum, nichts rührte sich. Hier herrschte nur Stille, tiefe, alles durchdringende Stille, so daß es schien, diese selbst würde in Ermangelung jeglichen anderen Lebens zu einem lebendigen Wesen.
Allanon ließ sie im Schutz eines Hains rauher, splitteriger Hickorybäume Halt machen und ihr Lager aufschlagen. Sobald die Vorräte sortiert, die Pferde versorgt und die Decken ausgebreitet waren, rief der Druide sie zu sich, befahl, kein Feuer zu entfachen, und stapfte nach einem raschen Wort des Abschieds davon in den Wald. Das Mädchen aus dem Tal und der Hochländer schauten ihm wortlos nach, bis er außer Sicht war, und setzten sich dann, um eine kalte Mahlzeit aus Brot, Käse und getrockneten Früchten zu sich zu nehmen. Sie aßen im Dunkeln, ohne zu sprechen und suchten die Schatten um sich her nach Anzeichen von Leben ab, das niemals auftauchen wollte. Über ihnen erhellte sich der Nachthimmel mit einem weiten Gespinst von Sternen.
„Was glaubst du, wohin er heute nacht gegangen ist?“ fragte Rone Leah nach einiger Zeit. Er sprach fast so, als stellte er die Frage an sich selbst. Brin schüttelte den Kopf und schwieg, worauf der Hochländer wieder den Blick abwandte. „Er ist wie ein Schatten, findest du nicht? Dreht sich mit jeder Veränderung von Sonne und Mond, taucht auf und ist auch schon wieder verschwunden — aus Gründen, die nur er kennt. Aber die würde er uns freilich nicht anvertrauen. Doch nicht gewöhnlichen Sterblichen wie uns.“
Er seufzte und stellte seinen Teller beiseite. „Außer daß wir vermutlich keine gewöhnlichen Sterblichen mehr sind, wie?“
Brin spielte mit den Resten von Brot und Käse, die noch auf ihrem Teller lagen. „Nein“, antwortete sie leise.
„Nun ja, auch egal. Nichtsdestoweniger sind wir die, welche wir immer waren.“ Er machte eine Pause, als fragte er sich, inwieweit er sich dessen eigentlich sicher war. Dann beugte er sich nach vorn. „Es ist eigentümlich, aber meine Einstellung ihm gegenüber hat sich verändert. Ich habe den ganzen Tag darüber nachgedacht. Ich traue ihm immer noch nicht ganz. Das kann ich einfach nicht. Er weiß zuviel, was ich nicht weiß. Aber ich mißtraue ihm auch nicht mehr. Ich habe durchaus den Eindruck, daß er nach besten Kräften zu helfen versucht.“
Er hielt inne und wartete, daß Brin ihm zustimmte, aber das Mädchen aus Shady Vale schwieg weiter und hielt den Blick von ihm abgewandt.