„Brin, was macht dir Sorgen?“ fragte er schließlich.
Sie schaute ihn an und schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht recht.“
„Liegt es an dem, was er uns gestern Abend gesagt hat — daß wir ihn danach nicht wiedersehen würden?“
„Ja, das auch. Aber nicht nur.“
Er zögerte. „Vielleicht bist du einfach nur...“
„Irgend etwas stimmt nicht“, fiel sie ihm ins Wort, und ihre Augen fixierten die seinen. „Was?“
„Irgend etwas stimmt nicht.“ Sie wiederholte es langsam und deutlich. „Mit ihm, mit dir, mit dieser ganzen Reise — aber ganz besonders mit mir.“
Rone starrte sie an. „Das verstehe ich nicht.“
„Ich verstehe es auch nicht. Ich fühle es nur.“ Sie zog ihren Umhang eng an sich und kauerte sich in seine Falten. „Ich habe es schon seit Tagen empfunden — immer, seit Brimens Schatten im Hadeshorn erschien und wir den Geist vernichtet haben. Ich fühlte etwas Schlimmes kommen... etwas Schreckliches. Und ich weiß nicht, was es ist. Und ich spüre auch, daß ich beobachtet werde; ich werde die ganze Zeit über beobachtet, aber niemals ist etwas zu sehen. Und was das schlimmste ist: Ich werde von mir... entfremdet, von mir, von dir und von Allanon. Alles wird anders seit unserem Ausbruch aus Shady Vale. Irgendwie hat es sich verändert.“
Der Hochländer sagte einen Augenblick lang gar nichts. „Ich nehme an, es liegt an allem, was wir erlebt haben, Brin. Das Hadeshorn, Paranor — Allanon, der uns mitteilte, was Brimens Schatten ihm verheißen hat. Das mußte Veränderungen in uns bewirken. Und wir sind nun viele Tage fern vom Tal und dem Hochland, fern von allem, was uns vertraut und heimisch ist. Das spielt dabei gewiß auch eine Rolle.“
„Fern von Jair“, fügte sie ruhig hinzu.
„Und deinen Eltern.“
„Aber Jair vor allem“, wiederholte sie hartnäckig, als versuchte sie, dieses Gefühl zu begründen. Dann schüttelte sie den Kopf. „Nein, das ist es nicht. Es ist etwas anderes, etwas, das über die Erlebnisse mit Allanon und die Sehnsucht nach Heim und Familie hinausgeht... Das wäre zu einfach, Rone. Ich kann es fühlen, tief in meinem Innern. Etwas, das...“
Sie verstummte, Unsicherheit stand in ihren dunklen Augen. Sie schaute weg. „Ich wünschte, Jair wäre jetzt bei mir — nur für ein paar Augenblicke. Ich glaube, er wüßte, was nicht stimmt. In dieser Hinsicht stehen wir uns so nahe...“ Sie unterbrach sich und lachte leise. „Ist das nicht albern? Sich so etwas zu wünschen, das vermutlich keinerlei Bedeutung hätte?“
„Mir fehlt er auch.“ Der Hochländer setzte ein schnelles Lächeln auf. „Er könnte uns zumindest von unseren Problemen ablenken. Er wäre vermutlich schon wieder drauf und dran, Mordgeister oder so etwas aufzuspüren.“
Er hielt inne, begriff, was er gesagt hatte, und tat dann sein Unbehagen mit einem Schulterzucken ab. „Wie dem auch sei, vermutlich ist alles in Ordnung — im Grunde genommen. Wenn etwas nicht stimmte, würde Allanon es doch spüren, oder? Er scheint doch alles zu fühlen.“
Brin brauchte lange, ehe sie antwortete. „Ich frage mich, ob das noch seine Gültigkeit hat“, brachte sie schließlich hervor. „Ich frage mich, ob er noch dazu in der Lage ist.“
Darauf schwiegen sie, und keiner schaute den anderen an, als sie starr in die Dunkelheit blickten und ein jeder seinen Gedanken nachhing. Mit den Minuten, die verstrichen, lastete die Stille der Berge immer schwerer auf ihnen und schien sie begierig in das Tuch seiner finsteren, öden Einsamkeit schlagen zu wollen. Mit jedem Augenblick, der dahinflog, schien es deutlicher, daß irgendein Geräusch den Bann durchbrechen müßte, der ferne Ruf eines Tieres, ein Rascheln im Wald oder auf den Felsen, das Rauschen von Bäumen oder das Summen eines Insekts. Doch nichts geschah. Es herrschte nur Stille.
„Ich habe ein Gefühl, als ob wir treiben würden“, meinte Brin plötzlich.
Rone Leah schüttelte den Kopf. „Wir reisen nach einer festgelegten Route, Brin. Das hat nichts mit Treiben zu tun.“
Sie schaute zu ihm hinüber. „Ich wünschte, ich hätte auf dich gehört und wäre niemals mitgekommen.“
Der Hochländer starrte sie erschrocken an. Das bildschöne, dunkelhäutige Gesicht blieb ihm zugewandt. In den dunklen Augen des Mädchens stand eine Mischung aus Erschöpfung und Zweifel, die der Angst zu nahe kam. Für einen einzigen Augenblick hatte er das ungute Gefühl, das Mädchen, das ihm gegenübersaß, wäre nicht Brin Ohmsford.
„Ich werde dich beschützen“, versprach er liebevoll und eindringlich. „Ich verspreche es.“
Darauf lächelte sie ein schwaches, zauderndes Lächeln, das über ihre Lippen zuckte und gleich wieder verschwunden war. Zärtlich streckte sie die Hände aus und strich über die seinen. „Das glaube ich schon“, flüsterte sie zur Antwort.
Aber irgendwo tief in ihrem Innern fragte sie sich zu ihrer eigenen Überraschung, ob sie überhaupt dazu in der Lage war.
Es war fast Mitternacht, als Allanon zu ihrem Lagerplatz zurückkehrte; er trat so lautlos wie ein Schatten, der durchs Wolfsktaag-Gebirge huschte, zwischen den Bäumen hervor. Durch die Äste über ihnen sickerte das Mondlicht in feinen Silberstrahlen und tauchte die ganze Nacht in gespenstische Helligkeit. Rone und Brin schliefen in ihre Decken gehüllt. An dem weiten, bewaldeten Berghang war alles still. Es war, als hielte er alleine Wache.
Der Druide blieb ein paar Meter vor der Stelle stehen, wo seine Schutzbefohlenen ruhten. Er war spazierengegangen, um alleine zu sein, nachzudenken und das unausweichlich Bevorstehende zu überdenken. Wie unerwartet die Worte Brimens gewesen waren, als der Geist sie ausgesprochen hatte — wie eigentümlich unerwartet. Und das hätten sie freilich nicht sein müssen. Er hatte von Anfang an gewußt, was einmal geschehen würde. Und doch war da immer das Gefühl, es möge eine Änderung eintreten. Er war schließlich Druide, und nichts war unmöglich.
Seine schwarzen Augen schweiften über die Bergkette. Das Gestern seines Lebens lag weit zurück, in weiter Ferne die Kämpfe, die er durchlebt, und die Straßen, die er durchwandert hatte, um diesen Augenblick zu erleben. Das Morgen schien ebenfalls fern, doch das war ein Trugbild, wie er wußte. Das Morgen lag direkt vor ihm.
So vieles war vollbracht worden, sinnierte er. Doch nicht genug. Er drehte sich um und schaute auf das schlafende Mädchen aus dem Tal hinab. Sie war diejenige, von der alles abhängen würde. Das wollte sie natürlich nicht glauben und auch nicht die Wahrheit über die Kraft des Wünschliedes, denn sie zog es vor, den Elfenzauber mit menschlichen Augen zu sehen, und dieser Zauber war niemals für Menschen faßbar gewesen. Er hatte ihr gezeigt, was der Zauber vermochte — nur einen kleinen Blick hatte er sie auf die Grenzen werfen lassen, an die man ihn führen konnte, denn mehr hätte sie, wie er begriff, nicht ertragen können. In ihrem Verständnis der Magie war sie ein Kind, und das Erwachsenwerden würde ihr schwerfallen. Um so schwerer, so wußte er, als er ihr nicht helfen konnte.
Er schlang unter seinen schwarzen Gewändern die Arme dicht um seinen Leib. Konnte er ihr wirklich nicht helfen? Da war es wieder. Er lächelte grimmig. Diese Entscheidung, daß er niemals alles offenbaren sollte, niemals mehr, als er für notwendig hielt — jene Entscheidung, daß, wie einstmals bei Shea Ohmsford, derjenige am besten selbst die Wahrheit in Erfahrung brachte, der mit ihr arbeiten würde. Er könnte sie ihr natürlich sagen — oder es zumindest versuchen. Ihr Vater würde empfohlen haben, sie ihr zu eröffnen, denn er hatte bei dem Elfenmädchen Amberle die gleiche Ansicht vertreten. Doch es lag nicht bei Wil Ohmsford, eine Entscheidung zu fällen. Es lag bei ihm.
Es lag stets bei ihm.
Ein Hauch Bitterkeit verzog seinen Mund. Dahin waren die Ratssitzungen von Paranor, da viele Stimmen und viele Köpfe sich zusammengetan hatten, um Lösungen für die Probleme der Menschheit zu finden. Die Druiden, die weisen Männer von einst, existierten nicht mehr. Die Geschichtsbücher, Paranor und alle Hoffnungen und Träume, die sie einmal genährt hatten, waren dahin, und nur er war noch geblieben.