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Nun lasteten alle Probleme der Menschheit auf seinen Schultern, wie es stets gewesen war und immer bleiben würde, solange er lebte. Auch diese Entscheidung hatte er gefällt. Er hatte sie gefällt, als er das zu werden beschloß, was er war. Aber er war der Letzte. Würde es noch jemanden geben, der die gleiche Entscheidung traf, wenn er dahingeschieden war?

Einsam und unsicher stand er am Rand der Schatten des Waldes und blickte auf Brin Ohmsford hinab.

Bei Tagesanbruch befanden sie sich wieder auf ihrem Ritt ostwärts. Es war ein weiterer strahlend sonniger Herbsttag — warm, süß und erfüllt von Träumen dessen, was sein könnte. Als die Nacht sich vom Wolfsktaag-Gebirge nach Westen verzog, schob sich die Sonne vom östlichen Horizont herauf und sickerte von den Baumkronen in goldenen Streifen, die bis in die dunkelsten Winkel des Landes reichten, sich ausbreiteten und die Dunkelheit vor sich hertrieben. Selbst in der weiten, öden Einsamkeit der abweisenden Berge machte sich ein Gefühl von Wohlbehagen und Frieden breit.

Brin dachte an zu Hause. Wie herrlich das Tal an einem solchen Tag sein mußte, stellte sie sich vor, als sie ihr Pferd über die Kammlinie lenkte und die Sonnenwärme auf ihrem Gesicht spürte. Selbst hier breiteten sich die Farben der Jahreszeit in wildem Durcheinander vor einem Hintergrund von Moos und Bodenbewuchs aus, der noch sommerliches Grün aufwies. Gerüche von Leben erfüllten ihre Nase, daß die Mischung sie berauschte. In Shady Vale würden die Dorfbewohner jetzt aufwachen und mit ihrem Tagwerk beginnen. Frühstück würde zubereitet, üppige Essensdüfte zögen durch die Fenster, die man weit aufgerissen hätte, um die Wärme des Tages hereinzulassen. Wenn später die vormittäglichen Hausarbeiten erledigt wären, würden die Familien sich zusammensetzen, um den Nachmittag, wie er um diese Jahreszeit selten war, über Spielen und Geschichten zu verbringen; sie würden begierig sein, die angenehme Temperatur zu nutzen und zumindest für kurze Zeit noch einmal die Erinnerung an den verstrichenen Sommer neu zu beleben.

Ich wünschte, ich wäre dort und könnte daran teilhaben, dachte sie. Ich sehne mich danach, ich wäre zu Hause.

Der Morgen verstrich schnell angesichts der warmen Sonne und der Erinnerungen und Träume. Kammlinien und Berghänge kamen und gingen, und vor ihnen tauchten allmählich zwischen den Gipfeln die bewaldeten Tiefebenen jenseits des Wolfsktaags auf. Gegen Mittag hatten sie das Gebirge überwunden und machten sich an den Abstieg.

Kurz darauf nahmen sie den Mangold-Wasserfall wahr.

Lange ehe sie ihn sehen konnten, war er zu hören — ein tiefes, durchdringendes Donnern hinter einer bewaldeten Anhöhe hervor, die sich hoch und zerklüftet in den weiten Himmel vom Ostland schob. Wie eine unsichtbare Welle brandete das Geräusch auf sie zu, ein tiefes, dumpfes Dröhnen, das die furchige Erde unter seiner Gewalt erbeben ließ. Dann schien der Wind es aufzugreifen und verstärkte seine Macht, bis die Waldluft mit Donnergetöse erfüllt war. Der Weg nach vorn fiel etwas ab, der Baumbestand verdichtete sich. Auf dem Grat verhüllten gefrierende Gischt und tief dahinziehender Nebel alles bis auf eine minimale Spur Blau des Mittagshimmels, der sich nun weit über den wirren Waldästen der Bäume mit ihrer feuchten, moosbewachsenen Rinde und den vor Nässe hell glänzenden, erdfarbenen Blättern verlor. Vor ihnen stieg der Weg wieder an zwischen Felsbrocken und herabgefallenen Ästen, die wie versteinerte Riesen gespenstisch aus dem Nebel ragten. Und noch immer war nur das gewaltige, ohrenbetäubende Geräusch zu vernehmen.

Doch als sich der Weg weiter in Serpentinen abwärts schlängelte und die Kammlinie näherrückte, begann sich der Nebel langsam unter dem Ansturm des Windes, der über den höchsten Punkt des Landes aus dem Wolfsktaag Richtung Osten auf die Tiefebene zupfiff, aufzulösen. Vor ihnen breitete sich die Senke des Tales aus, deren bewaldete Hänge dunkel und abweisend im Schatten der Berggipfel unter den von der Sonne vergoldeten Kammlinien lagen.

Und hier zeigte sich schließlich der Ursprung des Geräuschs: ein Wasserfall. Als ehrfurchtgebietende, hohe Säule brodelnden, weißen Wassers ergoß er sich wild aus einer Öffnung in der Felswand und fiel Hunderte von Metern hinab durch Wolken von Nebel und Gischt, die über der ganzen Westseite des Tales hingen, hinab zu einem großen Fluß, der sich zwischen Felsen und Bäumen dahinschlängelte, ehe er sich in der Ferne verlor.

Hintereinander brachten die drei ihre Pferde zum Stehen.

„Der Mangold-Fall.“ Allanon deutete auf den Wasserfall.

Brin starrte wortlos hinab. Ihr war, als stünde sie am Rande der Welt. Sie konnte nicht beschreiben, was sie in diesem Augenblick empfand, nur was sie sah. Unten, kaum hundert Meter entfernt, stürzten und strudelten die Wasser des Mangold-Falls die Felsen hinab durch eine Klamm und boten ein prachtvolles, atemberaubendes Schauspiel, das sie mit Ehrfurcht erfüllte. Weit unten dehnte sich das Tal, in das er sich ergoß, und das ferne Ostland bis zum Horizont war durch die aufgewirbelte Gischt der Fälle mit leichtem Glitzer überzogen und wie ein verblaßtes, altes Gemälde abgetönt und in den Konturen verwaschen. Hartnäckiger Nebel strich über das dunkelhäutige Gesicht des Talmädchens und peitschte wie leichter Regen durch ihr langes schwarzes Haar und ihre Waldkleidung. Sie blinzelte das Wasser aus ihren Augen und sog tief die kalte, harte Luft ein. Auf eine Weise, die sie nicht hätte erklären können, fühlte sie sich wie neu geboren.

Dann winkte Allanon sie weiter, und die drei Reiter bahnten sich ihren Weg am Hang der Innenseite des bewaldeten Talkessels und schoben sich an den Einschnitt der Felswand heran, wo die Wasserfälle hinabstürzten. Hintereinander wanden sie sich durch Gebüsch und Krüppelkiefern, die sich hartnäckig an den steinigen Boden dieser oberen Bereiche klammerten, folgten einer Spur, die wie ein ausgetretener, furchiger Pfad aussah, der seitlich an den Wasserfällen hinabführte. Aufsteigende Gischtwolken umhüllten sie und klebten feucht auf ihrer Haut. Der Wind erstarb hinter dem Rand des Grates, sein schrilles Pfeifen ging im Dröhnen des Wasserfalls unter. Sonnenschein versank in Schatten, ein trügerisches Zwielicht legte sich über das Waldland, das sie in allmählich weitergreifenden Schleifen passierten.

Schließlich gelangten sie an den Fuß der Wasserfälle und folgten weiter dem dunklen Weg, der sie hierhergeführt hatte, um endlich aus Nebel und Schatten in warmen Sonnenschein aufzutauchen. Sie ritten ostwärts am Flußufer entlang durch hohes Gras, das im Schutz eines Hains von Kiefern und gelbblättrigen Eichen noch frisch und grün war. Allmählich wurde das Donnern des Wasserfalls schwächer und die Luft weniger kalt. In den Bäumen um sie her flatterten Vögel in einem plötzlichen Aufleuchten von Farben.

Leben hatte wieder Einzug im Land gehalten. Brin seufzte dankbar und dachte, wie erleichtert sie war, die Berge hinter sich gebracht zu haben.

Und dann zerrte Allanon unvermittelt an den Zügeln, daß sein Pferd stehenblieb.

Und fast so, als gehorchte er dem Willen des Druiden, verstummte der Wald ringsum plötzlich — es war ein tiefes, bedrückendes Schweigen, das wie ein Leichentuch über allem hing. Ihre Pferde hielten hinter dem seinen an. Talmädchen und Hochländer schauten gespannt den großen Mann und dann einander an, und in ihren Blicken standen Überraschung und Vorsicht. Allanon rührte sich nicht. Er blieb einfach rittlings und steif im Gegenlicht sitzen, starrte geradeaus in die Schatten der Waldbäume und lauschte.

„Allanon, was...?“ hob Brin zu fragen an, doch die Hand des Druiden fuhr mit einem Ruck in die Höhe, um sie zum Schweigen zu bringen.

Endlich drehte er sich um, und das magere, dunkle Gesicht wirkte angespannt und hart; in seinen schmalen Augen stand ein Ausdruck, den weder das Mädchen aus dem Tal noch der Hochländer jemals gesehen hatten. In diesem Augenblick befiel Brin plötzliches Entsetzen, ohne daß sie hätte sagen können, warum sie dieses Gefühl überkam.