Jair Ohmsford hatte das Gefühl, als wäre das durchaus möglich, während er hilflos durch das Gestrüpp der Wildnis stapfte, weil die Lederfesseln ihn weiterzerrten, welche die dunkelgekleidete Gestalt vor ihm fest in Händen hielt. Kälte und Nässe machten sich tief in seinem Innern breit. Mit den Stunden forderte die Erschöpfung ihren Tribut. Fieber stieg in ihm auf, und damit begann sein Geist umherzuschweifen. Schlaglichter dessen, was ihn in diesen kläglichen Zustand versetzt hatte, mischten sich mit Kindheitserinnerungen in verzerrten Fragmenten von Lebensresten, die kurz durch seinen fiebrigen Kopf schwebten und verschwanden. Manchmal war er nicht ganz klar, und seltsame, erschreckende Bilder quälten ihn und stahlen sich wie Diebe durch seine Gedanken. Selbst wenn er für einige Augenblicke frei war von den Auswirkungen des Fiebers, prägte düstere Verzweiflung sein Denken. Nun bestand keine Hoffnung mehr für ihn, flüsterte sie. Capaal, die Verteidiger, die sie aufrechtgehalten hatten, und alle seine Freunde und Gefährten waren dahin. Bilder von den Augenblicken ihres Untergangs schössen mit der grellen Deutlichkeit des Blitzes, der über ihm durchs Blätterdach zuckte, durch seinen Kopf: Garet Jax, wie der Krake ihn tief hinab in die Wasser des Cillidellan mitriß; Foraker und Helt, begraben unter dem Schutt der Steinmauern, welche die schwarze Magie der Wandler zum Einsturz gebracht hatte; Spinkser, der wie von Sinnen vor ihm die unterirdischen Gänge der Festung hinabrannte, ohne sich umzudrehen, ohne etwas zu sehen. Manchmal erschienen ihm sogar Brin, Allanon und Rone, die irgendwo tief im Anar umherirrten.
Gelegentlich mußte er auch an den König vom Silberfluß denken, und diese Erinnerungen waren klar und merkwürdig deutlich und erfüllt von dem Wunder und dem My sterium des alten Mannes. Denk daran, flüsterten sie ihm mit leisen, drängenden Tönen zu. Vergiß nicht, was du zu tun hast. Doch wie es schien, hatte er es vergessen. Tief in seinem Hemd, geschützt vor den gierigen Augen des Mwellrets, befanden sich die Zaubergeschenke, die der alte Mann ihm überreicht hatte — der Sehkristall und der Lederbeutel mit dem Silberstaub. Er hatte sie immer noch und war entschlossen, sie zu behalten. Doch irgendwo war ihr Sinn merkwürdig unklar, verlor sich im steigenden Fieber und verlor sich in den Abschweifungen seines Geistes.
Als sie schließlich anhielten, um für die Nacht zu rasten, sah der Mwellret, daß Jair von Fieber befallen war, und verabreichte ihm eine Medizin, indem er den Inhalt eines Beutels an seiner Taille in einen Becher dunklen, bitteren Biers mischte. Der Talbewohner wollte den Trank ablehnen, so sehr war er mitgenommen durch das Fieber und sein Gefühl der Unsicherheit, doch der Mwellret zwang es ihm auf. Kurz danach schlief Jair ein und verbrachte diese Nacht ungestört. Bei Tagesanbruch bekam er mehr von der Medizin, und gegen Abend des zweiten Tages sank sein Fieber allmählich.
Sie brachten diese Nacht in einer Höhle an einer hohen Kammlinie mit Ausblick auf die dunkle Biegung des Flusses zu, und hier war es trockener und wärmer als in den vorangegangenen Nächten, da nicht die große Unbehaglichkeit des offenen Waldes herrschte. Es war an diesem Abend, daß Jair sich mit seinem Gefangenenwärter unterhielt. Sie hatten ihre Mahlzeit aus Wurzeln und getrocknetem Rindfleisch beendet und eine kleine Portion von dem bitteren Bier getrunken; nun saßen sie im Dunkeln einander gegenüber und kauerten sich gegen die nächtliche Kälte in ihre Umhänge. Draußen fiel anhaltender, feiner Nieselregen, der auf Bäume, Steine und die schlammige Erde plätscherte. Der Mwellret hatte Jair den Knebel noch nicht wieder in den Mund geschoben wie an den beiden vorangegangenen Abenden, sondern ihn locker um seinen Hals hängen lassen. Er saß da und beobachtete Jair aus funkelnden, kalten Augen, und sein Reptiliengesicht war als verwaschener Schatten im Dunkel seiner Kapuze zu erkennen. Er rührte sich nicht und sprach kein Wort. Er saß einfach nur da und betrachtete den Talbewohner ihm gegenüber. Die Minuten verstrichen, und Jair beschloß schließlich, das Geschöpf in eine Unterhaltung zu verwickeln.
„Wohin bringst du mich?“ getraute er sich vorsichtig zu fragen.
Schlitzaugen verengten sich weiter, und in diesem Augenblick begriff der Talbewohner, daß der Mwellret nur darauf gewartet hatte, daß er das Wort ergriff. „Wir gehen zur Hochwarte.“
Jair schüttelte verständnislos den Kopf. „Zur Hochwarte?“
„Berge unterhalb vom Rabenhorn, Elfling“, zischte der andere. „Bleiben für eine Zeitlang in diesen Bergen. Sstecke dich in die Gnomen-Kerker auf Dun Fee Aran!“
Jair schnürte es die Kehle zu. „In den Kerker? Du willst mich einsperren?“
„Dort werden meine Gässte untergebracht“, krächzte sein Gegenüber und lachte leise.
Der Talbewohner erstarrte beim Klang dieses Lachens und kämpfte gegen die Angst an, die ihn durchflutete. „Warum tust du mir das an?“ fragte er wütend. „Was willst du von mir?“
„Hss!“ Ein krummer Finger deutete in seine Richtung. „Ssollte der Elfling dasss wirklich nicht wissen? Verssteht er ess nicht?“ Die Gestalt im Umhang rückte gebückt näher. „Dann hör zu, kleiness Kerlchen. Hör zu! Unsser waren die begabten Leute, wir waren die Herren des Lebenss diesser Berge. Vor vielen Jahren kam der Dämonen-Lord zu unss, und ein Abkommen wurde getroffen. Wir schicken ihm kleine Gnomenleutchen als Diener, wenn er unss Herren diesser Berge bleiben lässst. So hat er ess gemacht, der Dämonen-Lord, und verschwand von der Erde, alss sseine Zeit gekommen war. Aber wir überdauern. Wir leben!“
Der krumme Finger drehte sich langsam. „Dann kommen die Wandler auss der Grube dess Maelmordss in unssere Berge gesstiegen. Dienen der Magie des Dämonen-Lordss, ssagen ssie. Ssollen unssere Heimat verlassen, ssagen ssie. Ssollen die kleinen Leutchen aufgeben, die unss dienen. Abkommen haben keine Bedeutung mehr. Wir lehnen die Wandler, die Mordgeisster ab. Wir ssind ebenfalss sstark. Aber ssie haben unss etwass angetan. Wir werden krank und ssterben. Keine Jungen kommen mehr zur Welt. Unsser Volk ging unter. Jahre versstreichen, und wir schrumpfen auf ein paar wenige zussammen. Immer wieder ssagen die Wandler, wir ssollten auss den Bergen versschwinden. Sschliesslich ssind wir zu wenige, und die Wandler vertreiben unss!“
Darauf machte er eine Pause, die grünen Schlitzaugen bohrten sich tief in die des Talbewohners. In ihnen stehen Wut und Verbitterung. „Hielten mich für tot, die Wandler, die Geisster. Finsstere Wesen dess Bossen. Aber ich lebe noch!“
Jair starrte das Ungeheuer an. Stythys gab ihm gegenüber zu, daß die Mwellrets zu Zeiten von Shea Ohmsford dem Dämonen-Lord das Leben der Berg-Gnome verkauft hatten, um sie im Kampf gegen das Südland in dem fehlgeschlagenen Dritten Krieg der Rassen einzusetzen. Die Mwellrets hatten das getan, um sich die Vorherrschaft in ihrem Bergkönigreich im Rabenhorn zu sichern. Es war, wie Foraker ihm berichtet und Spinkser es vermutet hatte. Doch dann waren die Mordgeister aufgetaucht, um als Nachfolger des Dämonen-Lords schwarze Magie auszuüben. Das Ostland befand sich nun in ihrer Hand, und das Rabenhorn würde nicht mehr lange Gebiet der Mwellrets sein. Als die Echsenwesen Widerstand geleistet hatten, waren sie von den Geistern infiziert und vernichtet worden. Demnach war Sty thys tatsächlich aus seiner Heimat vertrieben worden, ehe ihn die Zwerge gefunden und auf Capaal gebracht hatten...
„Aber was hat das alles mit mir zu tun?“ fragte er, und ein entsetzlicher Verdacht stieg in ihm hoch.
„Zauberkunsst“, zischte der Mwellret sogleich. „Magie, kleiner Freund! Ich möchte dass, wasss du bessitzt. Die Lieder, die du ssingen kannsst, muss ich erlernen! Du besitzt die Zauberkräfte! Du musst ssie mir geben!“