Stiefel scharrten leise über den erdigen Boden des Stalls draußen. Da sie mit den elfenfeinen Sinnen ihrer Vorfahren begabt war, nahm sie das Geräusch wahr, das andere überhört hätten. Eilig ließ sie Rones Hand los, rappelte sich hoch, und alle Müdigkeit war vergessen.
Dort draußen war jemand — jemand, der nicht gehört werden wollte.
Eine Hand griff vorsichtig nach dem Heft des langen Messers in der Gürtelscheide und sank dann wieder herab. Sie konnte das nicht. Oder vielmehr wollte sie es nicht.
Der Türriegel rappelte leise und hielt.
„Wer ist da?“ rief sie.
Draußen ertönte leises Fluchen, und plötzlich warfen sich mehrere schwere Leiber gegen die Schuppentür. Brin wich zurück und schaute sich rasch nach einem anderen Ausgang um. Es gab keinen. Wieder prallten die Körper gegen die Tür. Der Eisenriegel gab mit deutlichem Knacken nach, und fünf dunkle Gestalten polterten in den Raum; der schwache Schein der Öllampe schimmerte stumpf auf gezogenen Messern. Sie drängten sich am Rande des Lichtkreises eng zusammen und grunzten und brummten in ihrem Rausch, während sie das Mädchen anstarrten.
„Raus hier!“ fauchte sie, und Zorn und Furcht durchfluteten sie.
Gelächter antwortete ihren Worten, und der vorderste der Eindringlinge trat ins Licht vor. Sie erkannte ihn sogleich. Es war einer vom westlichen Bogengrat, einer von jenen, die Stebb als Diebe bezeichnet hatte.
„Hübsches Mäuschen“, murmelte er, und seine Worte klangen verwaschen. „Komm her... komm hierher.“
Die Fünf schoben sich nach vorn und verteilten sich indem dunklen Raum. Sie hätte versuchen können, zwischen ihnen hindurchzulaufen, aber das würde bedeutet haben, Rone im Stich zu lassen, und dazu war sie nicht bereit. Wieder schloß sich ihre Hand um das lange Messer.
„Na, laß das doch...“, flüsterte der Wortführer und rückte näher. Plötzlich tat er einen schnelleren Satz, als das Mädchen ihm bei seiner Trunkenheit zugetraut hätte, seine Hand umklammerte ihr Gelenk und riß die ihre fort von der Waffe. Sogleich strömten die anderen herbei, Hände zerrten an ihren Kleidern, zogen sie an sich und zu Boden. Sie wehrte sich wie von Sinnen und schlug heftig nach ihren Angreifern. Aber sie waren viel stärker als sie und taten ihr weh.
Dann schien etwas in ihr so deutlich auszurasten wie der Riegel zum Geräteschuppen, als man das Schloß erbrochen hatte. Ihre Gedanken zerstreuten sich, und alles, was ihr Wesen ausmachte, ging in einem Blitz blendenden Zorns unter. Was sich dann ereignete, geschah ganz instinktiv, unumstößlich und schnell. Sie sang das Wünschlied, und es erklang neu und anders als jemals zuvor. Es erfüllte die dunkle Kammer mit einer Raserei, die von Tod und sinnloser Zerstörung kündete. Die Angreifer taumelten von dem Mädchen zurück; sie hatten Augen und Münder vor Schreck und Staunen weit aufgerissen und schlugen die Hände vor die Ohren. Sie krümmten sich vor Schmerz, als das Wünschlied ihre Sinne überflutete und auf ihr Denken einschlug. Wahnsinn tönte aus seinem Klang, Raserei und Aggression, die so heftig waren, daß sie fast visuell wahrnehmbar wurden.
Die Fünf vom westlichen Bogenrat erstickten fast an dem Klang. Sie rannten einander schier über den Haufen, als sie nach der Tür umhertasteten, die sie hereingeführt hatte. Aus ihren aufgerissenen Mündern erklangen Schreie zur Antwort auf den Gesang des Talmädchens. Doch sie hörte noch immer nicht auf. Die Raserei hatte sie so im Griff, daß die Vernunft keine Möglichkeit fand, sich dagegen zu wehren. Das Wünschlied schwoll an, daß die Tiere im Stall auskeilten, heftig gegen ihre Boxen rempelten und ihren Schmerz hinausschrien, als die Stimme des Mädchens an ihnen zerrte.
Dann fanden die Fünf endlich den offenen Türrahmen, wankten wie von Sinnen aus dem Geräteschuppen und brachen zitternd und wimmernd zu Boden wie zu Tode gequälte Tiere. Blut sickerte ihnen aus Mündern, Ohren und Nasen. Hände mit zu Klauen verkrümmten Fingern waren vor Gesichter geschlagen.
Brin sah sie plötzlich in anderem Licht, als die Verblendung ihrer Raserei nachließ. Und sie bemerkte auch, wie der Händler Stebb plötzlich aus der Dunkelheit auftauchte. Als die Eindringlinge an ihm vorbeirannten, trat ein entsetzter Ausdruck auf sein Gesicht. Er blieb ebenfalls stehen und wich mit ängstlich von sich gereckten Händen vor ihr zurück. Mit einer Woge von Schuldgefühl kam sie wieder zur Vernunft, und das Wünschlied verstummte.
„Oh, gütige Geister!“ rief sie leise und brach in fassungslosem Entsetzen zusammen.
Mitternacht kam und ging vorüber. Der Händler hatte sie wieder alleingelassen und war mit furchtsamem Blick in die Behaglichkeit und Normalität seiner eigenen Behausung zurückgekehrt. In der Finsternis der Waldlichtung um die Rooker-Handelsstation war alles ruhig.
Sie hockte zusammengekauert an dem Kanonenofen. In seinem Innern brannte neues Holz und prasselte und stieb Funken in die Stille. Sie hatte wie ein träumendes Kind die Knie an die Brust gezogen und die Arme fest darumgeschlungen.
Doch ihre Gedanken waren finster und unheilvoll. Es fanden sich darin Bruchstücke von Allanons Äußerungen, die ihr zuflüsterten, was sie so lange zu hören sich geweigert hatte. Das Wünschlied bedeutet Macht — Macht, die nichts gleicht, was ich jemals erlebt habe. Sie wird dich beschützen. Sie wird dich unversehrt durch deine Mission geleiten. Sie wird den Ildatch vernichten.
Oder mich, antwortete sie. Oder jene um mich herum. Sie kann töten. Sie kann mich zum Töten treiben.
Schließlich bewegte sie sich, als ihr alles wehtat und sie völlig verspannt war, nachdem sie so lange die gleiche Haltung beibehalten hatte, und Angst funkelte in ihren dunklen Augen. Sie starrte durch die Gittertür des Eisenofens und beobachtete den roten Schein der Flammen, die dahinter tanzten. Sie hätte diese fünf Männer vom westlichen Bogengrat umbringen können, dachte sie verzweifelt. Und sie hätte sie möglicherweise umgebracht, wenn sie nicht die Tür gefunden hätten.
Ihr schnürte sich die Kehle zu. Wie ließe sich das beim nächsten Mal verhindern, wenn sie das Wünschlied einsetzen mußte?
Hinter ihr stöhnte Rone Leah leise und schlug unter den Decken um sich. Sie drehte sich langsam um, sein Gesicht zu betrachten, und seine Stirn zu streicheln. Seine Haut war jetzt totenblaß, fiebrig, heiß und gespannt. Auch sein Atem ging schlechter, flach und keuchend, als wäre jedes Luftholen eine Anstrengung, die weiter an seinen Kräften zehrte.
Sie kniete sich neben ihn und schüttelte den Kopf. Die Medizin hatte nicht gewirkt. Er wurde schwächer, das Gift breitete sich zunehmend in seinem Kreislauf aus und ließ seine Lebenskraft schwinden. Wenn man dem nicht Einhalt gebot, würde er sterben...
Wie Allanon.
„Nein!“ rief sie leise und dringlich aus und nahm seine Hand so fest in die ihre, als könnte sie das Leben zurückhalten, das da verflog.
In diesem Augenblick wußte sie, was sie zu tun hatte. Retterin und Zerstörerin — so hatte Brimens Schatten sie genannt. Um so besser. Für diese Räuber vom westlichen Bogengrat war sie Zerstörerin gewesen. Vielleicht konnte sie für Rone Leah zur Retterin werden.
Sie behielt seine Hand in der ihren und beugte sich an sein Ohr hinab; dann begann sie zu singen. Leise und sanft floß das Wünschlied von ihren Lippen, zog wie unsichtbarer Rauch durch die Luft um sie beide. Vorsichtig streckte sie die Hände nach dem Hochländer aus, tastete seine Verwundung ab und suchte die Quelle des Giftes, das ihn umzubringen drohte.
Ich muß es versuchen, sagte sie sich, während sie sang. Ich muß! Bis zum Morgen wird er tot sein, wenn das Gift sich erst in seinem ganzen Körper ausgebreitet hat — ein Gift, das die Psyche ebenso angreift wie den Körper. Allanon hatte erklärt, daß es so wirkte. Vielleicht fand dann der Elfenzauber einen Weg zur Heilung.
Sie sang süße, sehnsuchtsvolle Töne, die den Hochländer schwer einlullten und ihn nahe an sie heranzogen. Allmählich hörte er auf, zu zittern und sich herumzuwerfen, und wurde ruhiger angesichts der besänftigenden Töne. Er schlüpfte tiefer in die Decken, sein Atem kam regelmäßiger und kräftiger.