Die Minuten verstrichen qualvoll langsam, während das Talmädchen weitersang und auf die Veränderung wartete, die, wie sie deutlich fühlte, kommen mußte. Als es endlich soweit war, trat dieser Wechsel so unvermittelt ein, daß ihr die Kontrolle über ihr Vorhaben fast entglitten wäre. Von dem gemarterten, ausgezehrten Körper Rone Leahs stieg das Gift des Jachyras als roter Nebel auf — hob sich wie Dunst aus dem bewußtlosen Hochländer, um über ihm zu schweben und bedrohlich im schwachen Licht der Öllampe Kreise zu ziehen. Zischend blieb es einen Augenblick lang über seinem Opfer hängen, bis Brin die Magie des Wünschliedes zwischen seine Ausstrahlung und den Körper von Rone Leah schob. Dann plötzlich löste sich die Wolke in nichts auf und war verschwunden.
Das Gesicht des Prinzen von Leah auf dem Bett neben ihr war schweißgebadet. Der angespannte, ausgezehrte Ausdruck war fort, und er atmete wieder kräftig und ruhig. Brin starrte durch einen Tränenschleier auf ihn hinab, ehe das Wünschlied verhallte.
Ich habe es geschafft, weinte sie leise. Ich habe den Zauber zu einem guten Zweck genutzt. Diesmal als Retterin — nicht als Zerstörerin.
Sie kniete noch immer neben ihm, grub ihr Gesicht in seine Körperwärme und drückte ihn fest an sich. Innerhalb weniger Augenblicke war sie eingeschlafen.
28
Sie blieben noch zwei Tage auf der Rooker-Handelsstation, damit Rone wieder ausreichend zu Kräften käme, die Reise ostwärts fortzusetzen. Gegen Morgen war das Fieber völlig weg, und der Hochländer schlief ruhig, doch er war noch viel zu geschwächt, schon einen Gehversuch zu unternehmen. Also bat Brin den Händler Stebb um Erlaubnis, den Geräteraum noch einen Tag zu benutzen, und der erklärte sich einverstanden. Er versorgte sie mit Essen zu den Mahlzeiten, Bier, Medikamenten und Decken und lehnte entschieden alle Bezahlungsangebote ab. Er versicherte dem Talmädchen, daß er glücklich sei, ihnen helfen zu können. Doch er fühlte sich unwohl in ihrer Gegenwart und konnte ihr nie so recht in die Augen sehen. Brin begriff sehr wohl, was in ihm vorging. Der Händler, war ein freundlicher, anständiger Mann, doch jetzt hatte er Angst vor ihr und davor, was sie ihm antun mochte, wenn er nicht auf ihre Bitten einging. Er hätte ihr sicherlich schon aus angeborener Großzügigkeit geholfen, doch die Furcht hatte seine Neigung noch verstärkt. Ganz offenkundig hielt er das für die schnellste und anständigste Weise, sie wieder loszuwerden.
So blieb sie die meiste Zeit über in den vier Wänden des kleinen Geräteschuppens bei Rone, besorgte alles, was er brauchte, und sprach mit ihm über alles, was ihnen seit Allanons Tod widerfahren war. Das Reden darüber schien ihn zu erleichtern; waren beide auch noch wie vor den Kopf geschlagen von den Geschehnissen, so brachte die gemeinsame Offenlegung ihrer Gefühle auch eine gemeinsame Entschlossenheit zu Tage, weiterzuziehen und die Mission zu Ende zu führen, mit welcher der Druide sie betraut hatte. Zwischen ihnen entwickelte sich eine neue Vertrautheit, deren Sinn deutlicher und stärker war. Mit Allanons Tod hatten sie nur noch jeweils den anderen, auf den sie sich stützen konnten, und jeder wußte die Präsenz des anderen neu zu schätzen. Allein zu zweit in der Abgeschiedenheit der winzigen Kammer hinten im Stall des Händlers sprachen sie leise über die einzelnen Entscheidungen, die sie an diesen Punkt ihres Lebens gebracht hatten, und jene, die noch zu treffen waren. Langsam und sicher schlössen sie sich zu einer unverbrüchlichen Einheit zusammen.
Doch trotz ihrer Verbundenheit im Geiste und für ihre Sache gab es einige Dinge, die Brin sich nicht überwinden konnte auszusprechen, nicht einmal gegenüber Rone Leah. Sie mochte ihm nicht von dem Blut erzählen, das Allanon von seinem geschundenen Leib getupft hatte, um sie im Tode damit zu zeichnen — Blut, das sie in gewisser Weise an ihn binden sollte. Und sie konnte Rone auch nicht berichten, wie sie das Wünschlied eingesetzt hatte — einmal im Zorn, um menschliches Leben zu vernichten, ein zweites Mal im verzweifelten Versuch, es zu retten. Nichts von alledem konnte sie dem Hochländer sagen — teilweise, weil sie es selbst nicht recht verstand, teilweise weil alles damit Verbundene sie so sehr erschreckte, daß sie nicht sicher war, ob sie es erzählen mochte. Der Blutschwur war ihr im Augenblick zu abwegig, sich damit aufzuhalten, und der Einsatz des Wünschliedes war das Ergebnis von Empfindungen, die sie sich geschworen hatte, zukünftig unter Kontrolle zu halten.
Doch es gab noch einen weiteren Grund, Rone diese Dinge zu verschweigen. So wie die Sache lag, war der Hochländer schon beunruhigt genug durch den Verlust des Schwertes von Leah — tatsächlich so beunruhigt, daß er kaum in der Lage schien, an etwas anderes zu denken. Er wollte das Schwert zurückhaben, betonte er ihr immer wieder. Er würde es ausfindig machen und um jeden Preis zurückholen. Seine Hartnäckigkeit machte ihr Angst, denn er schien sich in solchem Maße von dem Schwert abhängig gemacht zu haben, als wäre die Waffe irgendwie Teil seiner selbst geworden. Vermutlich glaubte der Hochländer, die vor ihnen liegenden Prüfungen nicht ohne es überleben zu können.
Die ganze Zeit, während sie seinen Worten lauschte und darüber nachdachte, wie sehr er inzwischen von der Magie der Klinge abhing, fragte sie sich auch, in welchem Maß sie eigentlich vom Wünschlied abhängig war. Es war nur ein Spielzeug, hatte sie sich immer gesagt — aber das war eine Lüge. Es war alles andere als ein Spielzeug; es war haargenau so gefährliche Magie wie die des verlorenen Schwertes von Leah. Es konnte töten. Es war tatsächlich das, als was ihr Vater es immer bezeichnet hatte — ein Erbe, ohne das sie besser auskäme.
Allanon hatte sie gewarnt, als er im Sterben lag: „Es ist Macht, wie ich sie niemals zuvor erlebt habe.“ Die Worte gingen ihr unheilvoll durch den Kopf, als sie nun Rone zuhörte. Macht zu heilen, Macht zu zerstören — sie hatte beides erlebt. Mußte sie so abhängig werden, wie Rone es vom Schwert zu sein schien? Sie oder der Elfenzauber — wer würde wen beherrschen?
Sie wußte, ihr Vater hatte diesen Kampf schon einmal für sich ausgetragen, um eine Antwort auf diese Frage zu finden. Er hatte ihn ausgefochten, als er sich abmühte, seine Unfähigkeit zu überwinden, die magische Kraft der Elfensteine zu beherrschen. Er hatte den Kampf hinter sich gebracht, die überwältigenden Gefühle, die er in ihm auslöste, überwunden und sie dann für immer weggepackt. Und doch hatte ihn der kurze Einsatz der Macht bereits einen Preis gekostet — die Übertragung der Zauberkraft von den Elfensteinen auf seine Kinder. Also mußte der Kampf nun vielleicht neu ausgetragen werden. Was aber, wenn die Macht sich diesmal nicht unter Kontrolle bringen ließe?.
Der zweite Tag neigte sich dem Abend entgegen. Das Talmädchen und der Hochländer nahmen die Mahlzeit zu sich, die der Händler ihnen gebracht hatte, und schauten in die wachsende Dunkelheit. Als Rone müde geworden war und sich zum Schlafen in die Decken gerollt hatte, schlüpfte Brin hinaus in den kühlen Herbstabend, die klaren, reinen Düfte einzuatmen und eine Zeitlang den Anblick des Himmels zu genießen, an dem hell eine Mondsichel und Sterne funkelten. Auf ihrem Weg an der Handelsstation vorbei sah sie den Händler in einem hochlehnigen, an das Geländer gekippten Stuhl auf der Veranda sitzen und seine Pfeife rauchen. An diesem Abend hatte niemand auf ein Schwätzchen oder ein Glas Bier vorbeigeschaut, so daß er nun alleine dasaß.
Ruhig trat sie zu ihm.
„’n Abend“, grüßte er hastig und kippte mit seinem Stuhl ein bißchen zu eilig nach vorn, fast so, als wollte er gleich die Flucht ergreifen.
Brin nickte. „Wir werden morgen weiterziehen“, erklärte sie ihm und glaubte, einen Ausdruck schlagartiger Erleichterung in seinen dunklen Augen zu erkennen. „Aber ich möchte Euch erst noch für Eure Hilfe danken.“
Er schüttelte den Kopf. „Ich werde euch ein paar Vorräte für die ersten paar Tage zusammenpacken.“
Brin widersprach nicht. Es war sinnlos, etwas anderes zu tun, als einfach anzunehmen, was er anbot.