„Habt Ihr zufällig einen Eschenholzbogen?“ fragte sie, als sie plötzlich an Rone dachte. „Einer, den wir zum Jagen benützen könnten, wenn...“
„Einen Eschenholzbogen? Ich habe tatsächlich einen hier.“ Der Händler war sogleich auf den Beinen. Er duckte sich unter der Türfüllung durch, die in den Verkaufsraum führte und tauchte einen Augenblick später mit einem Bogen und einem Köcher voller Pfeile wieder auf. „Die kannst du nehmen“, drängte er sie. „Natürlich ohne Entgelt. Gute, kräftige Waffen. Gehören dir ohnehin, denn sie wurden von den Burschen zurückgelassen, die du vertrieben hast.“
Er riß sich zusammen und räusperte sich befangen. „Jedenfalls kannst du sie haben“, schloß er.
Er stellte Bogen und Köcher vor ihr ab, ließ sich wieder in seinen Lehnstuhl sinken und trommelte mit den Fingern nervös auf die hölzerne Armlehne.
Brin hob Bogen und Köcher auf. „Eigentlich stehen sie mir nicht zu, wißt Ihr“, sprach sie ruhig. „Und schon gar nicht wegen dessen... was vorgefallen ist.“
Der Händler hielt den Blick auf seine Füße geheftet. „Mir stehen sie auch nicht zu. Nimm sie ruhig, Mädchen.“
Es trat langes Schweigen ein. Der Händler starrte entschlossen an ihr vorbei in die Dunkelheit. Brin schüttelte den Kopf. „Wißt Ihr irgend etwas über das Land östlich von hier?“ fragte sie ihn.
Er hielt den Blick abgewandt. „Nicht viel. Es ist eine üble Gegend.“
„Gibt es jemanden, der darüber Bescheid wissen könnte?“
Der Händler antwortete nicht.
„Was ist mit dem Holzfäller, der neulich abends hier war?“
„Jeft?“ Der Händler schwieg für einen Augenblick. „Wahrscheinlich. Er ist viel herumgekommen.“
„Wie kann ich ihn finden?“ bedrängte sie den Mann und fühlte sich immer unwohler angesichts seiner Verschwiegenheit.
Der Händler zog die Stirn kraus. Er überlegte, was er antworten sollte. Schließlich schaute er sie direkt an. „Du wirst ihm doch nichts zuleide tun, Mädchen?“
Brin betrachtete ihn eine Weile traurig und schüttelte den Kopf. „Nein, ich werde ihm nichts zuleide tun.“
Der Händler musterte sie einen Augenblick und wandte dann den Blick ab. „Weißt du, wir sind Freunde.“ Dann deutete er zum Mangold-Strom. „Er hat ein Camp ein paar Meilen flußabwärts am Südufer.“
Brin nickte. Sie wollte sich gerade umdrehen, hielt dann aber inne. „Ich bin der gleiche Mensch, der ich an jenem ersten Abend war, als Ihr mir halft“, erklärte sie ruhig.
Lederstiefel scharrten über die Holzbohlen der Veranda. „Vielleicht bilde ich mir einfach nur ein, daß du eine andere bist“, kam die Antwort.
Sie preßte die Lippen zusammen. „Ihr müßt keine Angst vor mir haben, wißt Ihr. Wirklich nicht.“
Die Stiefel hörten zu scharren auf, und er schaute auf sie hinab. „Ich habe keine Angst“, behauptete er leise.
Sie wartete noch einen Moment, suchte vergeblich nach etwas, das sie noch hätte sagen können, drehte sich dann um und ging davon in die Dunkelheit.
Am nächsten Morgen kurz nach Tagesanbruch verließen Brin und Rone die Rooker-Handelsstation in Richtung Osten. Beladen mit Lebensmitteln, Decken und dem Bogen, den der Händler bereitgestellt hatte, verabschiedeten sie sich von dem verängstigten Mann und verschwanden zwischen den Bäumen.
Ein heller, warmer Tag leuchtete ihnen entgegen. Als sie am Südufer des Mangold-Stroms ihren Weg flußabwärts verfolgten, war die Luft erfüllt von den Geräuschen des Lebens im Wald und dem Geruch welkender Blätter. Ein Westwind wehte sacht aus dem entfernten Wolfsktaag, und Blätter segelten in trägen Spiralen zur Erde, um sich als dicker Teppich über den Waldboden zu breiten. Durch die Bäume hindurch war zu erkennen, wie das Land vor ihnen sich in sanften Hügeln und Tälern erstreckte. Eichhörnchen und Streifenhörnchen huschten umher und flitzten davon, wenn sie sie kommen hörten und dadurch bei ihren Vorbereitungen für den Winter gestört wurden, der an diesem Tag noch in weiter Ferne zu liegen schien.
Zur Mitte des Vormittags legten das Talmädchen und der Hochländer eine kleine Rast ein und setzten sich nebeneinander auf einen alten, ausgehöhlten, wurmzerfressenen Baumstamm. Vor ihnen, keine zehn Meter entfernt, ergoß sich der Mangold-Strom in stetem Fluß ostwärts in den unteren Anar; in seiner Umklammerung drehte und kreiste Holz und Treibgut aus dem Hochland in komplizierten Mustern.
„Es fällt mir immer noch schwer zu glauben, daß er wirklich fort ist“, meinte Rone nach einer Weile, während sein Blick über den Fluß schweifte.
Brin mußte gar nicht erst fragen, von wem er sprach. „Mir auch“, stimmte sie leise zu. „Manchmal denke ich, er wäre gar nicht tot — daß ich mich getäuscht habe in dem, was ich sah — und er müßte zurückkommen, wie er immer zurückkam, wenn ich nur Geduld hätte.“
„Wäre das denn so befremdlich?“ überlegte Rone. „Wäre es so überraschend, wenn Allanon genau das tun würde?“
Das Talmädchen schaute ihn an. „Er ist tot, Rone.“
Rone hielt das Gesicht abgewandt, nickte aber. „Ich weiß.“ Er schwieg einen Augenblick, ehe er fortfuhr. „Glaubst du, wir hätten irgend etwas unternehmen können, um ihn zu retten, Brin?“
Nun sah er das Mädchen direkt an. Er fragte sie, ob er etwas hätte tun können. Brins Lächeln zuckte rasch und bitter über ihren Mund. „Nein, Rone. Er wußte, daß er sterben würde; es war ihm vorhergesagt, daß er die Mission nicht zu Ende führen würde. Ich glaube, er hat die Unausweichlichkeit dieses Schicksals angenommen.“
Rone schüttelte den Kopf. „Ich hätte das nicht getan.“
„Ich wahrscheinlich auch nicht“, gab Brin zu. „Vielleicht hat er uns deshalb nicht gesagt, was passieren würde. Und vielleicht können wir auch gar nicht hoffen zu verstehen, warum er es hingenommen hat, weil wir ihn niemals richtig verstehen konnten.“
Der Hochländer beugte sich nach vorn und stützte die Arme auf die ausgestreckten Beine. „So verschwindet der letzte der Druiden von der Erdoberfläche, und es bleibt keiner, den schwarzen Wandlern entgegenzutreten als du und ich.“ Er wiegte verzweifelt den Kopf. „Wir armen Teufel!“
Brin blickte befangen auf ihre Hände hinab, die sie im Schoß gefaltet hielt. Sie mußte daran denken, wie Allanon ihre Stirn mit seinem Blut gezeichnet hatte, als er im Sterben lag, und sie schauderte bei der Erinnerung.
„Wir armen Teufel!“ wiederholte sie leise.
Sie ruhten sich noch ein paar Minuten aus, ehe sie ihren Marsch nach Osten fortsetzten. Knapp eine Stunde später durchquerten sie einen seichten Bach mit kiesigem Bett, der sich träge in einer ausgespülten Rinne von dem schnelleren Hauptarm des Mangold-Stroms davonschlängelte. Dort entdeckten sie eine Ein-Raum-Hütte hinten zwischen den Waldbäumen. Sie war aus handgefällten, über Kreuz gestapelten und mit Mörtel gefugten Baumstämmen errichtet und stand auf einer Lichtung auf einer leichten Anhöhe, welche die Schwelle zu einer Reihe sanfter Hügel bildete, die sich in den Wald hineinzogen. Zwischen den Bäumen hinter der Hütte grasten ein paar Schafe und Ziegen und eine einzelne Milchkuh. Als er die beiden näherkommen hörte, erhob sich ein alter Jagdhund von seinem bevorzugten Schlafplatz neben der Veranda des Häuschens und streckte sich genüßlich.
Der Holzfäller Jeft stand auf der gegenüberliegenden Seite der Lichtung und machte mit nacktem Oberkörper Feuerholz. Mit sicherem, vielgeübtem ausholenden Schwung der langstieligen Axt zerteilte er das Holzstück, das aufrecht auf einem abgewetzten Stumpen stand, der als Hackklotz diente. Er zerrte die eingekeilte Klinge heraus und strich die gespaltenen Hälften vom Klotz, ehe er bei seiner Arbeit innehielt, um seinen herankommenden Besuchern entgegenzuschauen. Er senkte die Klinge der Axt auf den Stumpf, ließ die knorrigen Hände auf dem glatten Ende des Stiels liegen und wartete.
„Morgen“, grüßte Brin, als sie zu ihm traten.
„Morgen“, erwiderte der Holzfäller und nickte. Er schien keineswegs erstaunt, daß sie hier waren. Er schaute Rone an. „Na, dir geht’s wohl etwas besser, wie?“