Dann faßte sie liebevoll nach seinem Arm und machte sich auf den Weg in das flache Tal hinab.
Die kaum erkennbare Wegspur schlängelte sich durch eine Mauer hoher Bäume. Als die Sonne sich beständig dem westlichen Horizont näherschob, schloß sich der Wald um sie her. Sie kletterten vorsichtig über umgestürzte Bäume und um zerklüftete Felsformationen, bis der dicht bewachsene Hang zum Talboden auslief. Unter dem Baldachin der Waldbäume wurde der Weg hier breiter und verlief sich dann völlig, als die Sträucher und das tote Reisig sich lichteten. Warmer Nachmittagssonnenschein strömte sanft durch die Spalten und Ritze der ineinander verschlungenen Äste über ihnen und erhellte die gesamte, düstere Waldgegend. Dutzende von weiten, hübschen kleinen Lichtungen durchzogen den Wald im Tal und erweckten einen Eindruck von Weiträumigkeit und Offenheit. Die Erde wurde hier weich und locker, war frei von Steinbrocken und mit einem Teppich unzähliger Zweigchen und Blätter bedeckt, der leise unter den Schritten des Talmädchens und des Hochländers raschelte.
Dieses liebliche Tal vermittelte ein Gefühl von Behaglichkeit und Vertrautheit, das im krassen Gegensatz zu der Wildnis ringsum stand, und Brin Ohmsford mußte unwillkürlich an Shady Vale denken. Die Geräusche des Lebens von Insekten und anderen Tieren, eine plötzliche und flüchtige Bewegung in den Bäumen, selbst der warme, frische Duft der herbstlichen Wälder — alles glich jenem fernen Dorf im Südland. Es gab keinen Rappahalladran, doch Dutzende kleiner Bäche schlängelten sich träge über ihren Weg. Das Mädchen aus Shady Vale atmete tief ein. Kein Wunder, daß der Waldbewohner Cogline gerade dieses Tal als sein Zuhause gewählt hatte.
Die Wanderer drangen tiefer in den Wald ein, und die Zeit verstrich sehr langsam. Ab und zu konnten sie zwischen dem Gespinst der dunklen Äste ein Stück des Kamins erspähen, der sich als hochragender Schatten schwarz vom blauen Himmel ab zeichnete, und sie hielten darauf zu. Sie marschierten schweigend, so erschöpft waren sie, und beeilten sich, ihre heutige Wegstrecke zu Ende zu bringen; ihre Gedanken waren auf den Weg vor ihnen und die Geräusche und den Anblick des Waldes konzentriert.
Schließlich blieb Rone Leah stehen und faßte zur Vorsicht mahnend nach Brins Arm, während er geradeaus starrte.
„Hörst du das?“ fragte er ruhig, nachdem er einen Augenblick lang gelauscht hatte.
Brin nickte. Es war eine Stimme — eine dünne, kaum hörbare, aber eindeutig menschliche Stimme. Sie warteten einen Moment, um die Richtung abzuschätzen, und begannen dann, darauf zuzugehen. Die Stimme verstummte eine Weile und erklang dann wieder lauter und fast wütend. Wer immer da sprach, er befand sich direkt vor ihnen.
„Du solltest dich jetzt besser wieder zeigen!“ Die Stimme klang hoch und durchdringend. „Ich habe keine Zeit für solche Spielchen!“
Es ertönte Gemurmel und Fluchen, und das Talmädchen und der Hochländer schauten einander fragend an.
„Nun komm schon raus, komm raus!“ keifte die Stimme und verebbte dann zu ärgerlichem Gebrummel. „Ich hätte dich im Moor lassen sollen... wenn ich nicht so ein weiches Herz hätte...“
Dann wurde noch mehr geschimpft, und sie hörten, wie etwas durchs Unterholz brach.
„Ich habe aber auch meine Tricks, weißt du! Ich habe Pulver, mit dem ich dir den Boden unter den Füßen wegpusten kann, und Zaubertränke, die dir Knoten in deine Innereien machen würden! Das solltest du doch wissen, du... Ich möchte mal sehen, wie du an einem Seil hochkletterst! Das will ich sehen! Ich will mal sehen, daß du irgend etwas anderes machst, als mir Schwierigkeiten zu bereiten. Was würdest du denn davon halten, wenn ich dich einfach hierlasse? Ha, wie würde dir das gefallen? Ich schätze, dann kämst du dir nicht mehr so clever vor. Jetzt komm da raus!“
Brin und Rone traten durch die dichtstehenden Bäume und Sträucher, die ihnen die Sicht versperrten, und standen am Rand einer kleinen Lichtung mit einem weiten, ruhigen Teich in der Mitte. Auf der anderen Seite kroch ein alter Mann ziellos auf Händen, und Knien herum. Als er sie kommen hörte, rappelte er sich in die Höhe.
„Aha! Du hast dich also durchgerungen...!“ Er hielt plötzlich inne, als er sie sah. „Wer seid ihr denn? Na, egal. Es spielt nicht die geringste Rolle. Haut ab hier und verschwindet dorthin, wo ihr hergekommen seid!“
Er drehte sich mit einer verscheuchenden Handbewegung um und kroch wieder am Waldrand entlang, wobei seine knochendünnen Arme nach links und rechts tasteten und sein magerer, gekrümmter Körper wie ein verdrehtes Stück Reisig aussah. Große Büschel zottigen weißen Haars und Barts hingen um seine Schultern, und seine grünen Kleider und das kurze Cape waren zerfetzt und zerschlissen. Das Talmädchen und der Hochländer starrten erst ihn und dann einander verblüfft an.
„Das ist einfach albern!“ wütete der alte Mann weiter und schrie seinen Zorn den schweigenden Bäumen entgegen. Dann drehte er sich um und sah, daß die Wanderer noch immer da waren. „Na, worauf wartet ihr noch? Macht, daß ihr fortkommt! Das ist mein Zuhause, und ich habe euch nicht eingeladen! Also raus, raus hier!“
„Hier lebt Ihr?“ erkundigte sich Rone und schaute sich voller Zweifel um.
Der alte Mann schaute ihn an, als wäre er nicht ganz bei Trost. „Hast du nicht gehört? Was glaubst du, warum ich sonst um diese Uhrzeit hier wäre?“
„Ich weiß es nicht“, mußte der Hochländer zugeben.
„Um diese Tageszeit sollte man zu Hause sein“, fuhr der andere in fast scheltendem Ton fort. „Was macht ihr überhaupt hier? Habt ihr kein Zuhause, wo ihr hingehen könntet?“
„Wir sind den ganzen Weg von Shady Vale im Südland gekommen“, wollte Brin dem alten Mann erklären, doch der gaffte sie nur verständnislos an. „Das liegt mehrere Tagesritte hinter dem Regenbogensee.“ Der Gesichtsausdruck des alten Mannes blieb unverändert.
„Jedenfalls suchen wir hier nach jemandem, der...“
„Hier gibt es niemanden außer mir.“ Der alte Mann schüttelte entschieden den Kopf. „Und Wisper, und den kann ich nicht finden. Wo glaubt ihr...?“
Er hielt verwirrt inne und wandte sich ab, als wollte er seine Suche nach dem rätselhaften Vermißten wieder aufnehmen. Brin warf Rone einen zweifelnden Blick zu.
„Wartet eine Minute!“ rief sie hinter dem alten Mann her, der sich darauf mit einem Ruck umdrehte. „Ein Holzfäller hat uns von dem Mann erzählt. Er berichtete uns, er würde hier draußen leben und sein Name sei Cogline.“
Der Alte zuckte mit den Schultern. „Noch nie gehört!“
„Nun ja, vielleicht lebt er in einer anderen Gegend dieses Tales. Vielleicht könntet Ihr uns sagen, wo wir...“
„Du hörst wohl nicht gut, wie?“ unterbrach der andere sie gereizt. „Ich weiß nicht, wo das liegt, wo ihr herkommt — und es ist mir auch egal —, aber ich wette, ihr habt es nicht gerne, wenn komische Leute in Eurem Zuhause rumlaufen, oder? Ich wette, Ihr kennt jeden, der dort lebt, zu Besuch ist oder was auch immer! Warum also glaubt ihr, daß es sich bei mir anders verhalten sollte?“
„Ihr meint, dieses ganze Tal wäre Euer Zuhause?“ fragte Rone ungläubig.
„Natürlich ist es mein Zuhause. Das habe ich euch jetzt schon ein halbes Dutzendmal gesagt! Nun verschwindet hier und laßt mich in Frieden!“
Er stampfte mit einem mit Sandale bekleideten Fuß kräftig auf und wartete, daß sie gingen. Doch die beiden blieben einfach stehen.
„Das hier ist doch der Kamin, oder?“ fragte Rone hartnäckig und geriet nun etwas in Wut über den zänkischen Alten.
Der Greis reckte resolut das magere Kinn vor. „Und wenn?“