30
Brin Ohmsford wandte kein Auge von dem alten Mann, und die Enttäuschung, die in ihr aufstieg, erstickte den Ausruf, der ihr in der Kehle saß. Eine Hand hob sich zu einer hilflosen Geste. „Ihr meint, Cogline ist tot?“
„Tot und begraben!“ keifte der gehässige Alte. „Nun haut ab und laßt mich in Frieden!“
Er wartete ungeduldig, daß das Talmädchen und der Hochländer gingen, aber Brin brachte es nicht fertig, sich in Bewegung zu setzen. Cogline tot? Irgendwie mochte sie das nicht so ganz akzeptieren. Hätte der Waldbewohner Jeft oder andere in den Wäldern um das Rooker-Handelszentrum nicht davon erfahren? Ein Mann, der so lange wie Cogline in dieser Wildnis gelebt hatte und der so vielen bekannt war...? Sie hielt in ihren Gedanken inne. Wahrscheinlich nicht, denn Waldbewohner und Fallensteller ließen sich oft monatelang nicht bei anderen sehen. Wer aber war dann dieser alte Mann? Ihn hatte er nicht erwähnt. Irgendwie stimmte das alles hinten und vorne nicht.
„Laß uns gehen“, schlug Rone ihr freundlich vor.
Aber das Talmädchen schüttelte den Kopf. „Nein. Erst wenn ich sicher bin. Erst wenn ich...!“
„Fort aus meinem Haus!“ wiederholte der Alte noch einmal und stampfte gereizt mit dem Fuß auf. „Nun habe ich aber genug von euch! Cogline ist tot! Wenn ihr jetzt nicht auf der Stelle verschwindet, werde ich...“
„Großvater!“
Die Stimme klang laut aus dem dunklen Wald zu ihrer Linken, wo in einiger Entfernung der zerklüftete Gipfel des Kamins schwarz aus den verschlungenen Ästen der schweigenden Bäume hervorragte. Drei Köpfe fuhren wie einer herum, und im Wald trat plötzliche Stille ein. Wisper tauchte auf der einen Seite wieder auf; seine blauen Augen leuchteten, und er hatte den zottigen Kopf emporgereckt und witterte. Der alte Mann brummelte vor sich hin und stampfte noch einmal auf.
Dann war ein leises Rascheln von Blättern zu vernehmen, und die Sprecherin tauchte auf und trat leichtfüßig auf die Lichtung. Brin und Rone schauten einander erstaunt an. Es war ein Mädchen, kaum älter als Brin, dessen zierliche, geschmeidige Gestalt in Hosen, Kittelbluse und einen mit Borten besetzten Kurzumhang in Waldgrün gekleidet war. Lange, krause Löckchen dichten, dunklen Haars hingen ihr über die Schultern und warfen weiche Schatten über ein sonnengebräuntes, leicht sommersprossiges Koboldgesicht, das durch seinen unschuldigen Ausdruck betörend, fast unwiderstehlich wirkte. Es war ein hübsches Gesicht, und war es auch nicht eigentlich schön wie Brins, so wirkte es doch sehr anziehend durch seine unkomplizierte Frische und Lebendigkeit. In dunklen, intelligenten Augen spiegelten sich Offenheit und Ehrlichkeit, als sie das Mädchen aus Shady Vale und den Hochländer neugierig musterte.
„Wer seid ihr?“ fragte sie in einem Ton, der unterstellte, sie besäße ein Recht, das zu wissen.
Brin schaute Rone und dann wieder das Mädchen an. „Ich bin Brin Ohmsford aus Shady Vale, und das ist Rone Leah. Wir sind von unserer Heimat im Süden, jenseits des Regenbogensees hier nach Norden gewandert.“
„Dann habt ihr einen langen Weg hinter euch“, bemerkte das Mädchen. „Warum seid ihr hier?“
„Wir suchen einen Mann namens Cogline.“
„Kennst du diesen Mann, Brin Ohmsford?“
„Nein.“
„Weshalb suchst du ihn dann?“
Das Mädchen ließ kein Auge von ihr. Brin zögerte und überlegte, wieviel sie ihr erzählen sollte. Irgend etwas an diesem Mädchen verbot Lügen, und Brin war auch nicht entgangen, wie ihr plötzliches Erscheinen den alten Mann beruhigt und die verschwundene Katze zurückgebracht hatte. Doch das Talmädchen war noch immer nicht bereit, ihre wahren Gründe für ihr Erscheinen am Kamin darzulegen, ehe sie nicht erst herausfände, wer die andere war.
„Man sagte uns, Cogline kenne die Wälder vom Dunkelstreif bis zum Rabenhorn am besten“, entgegnete sie vorsichtig. „Wir hofften, seine Hilfe für eine sehr wichtige Angelegenheit gewinnen zu können.“
Das Mädchen schwieg einen Augenblick und erwog offenbar, was Brin ihr gesagt hatte. Der alte Mann schlurfte zu der Stelle, wo sie stand und wand sich ungeduldig.
„Eindringlinge sind sie und Unruhestifter!“ wiederholte er starrsinnig.
Das Mädchen antwortete nicht und schaute ihn nicht einmal an; ihr Blick ruhte auf Brin, und sie stand völlig bewegungslos.
Der Alte warf verärgert die Hände in die Höhe. „Du solltest nicht einmal mit ihnen reden! Hinauswerfen solltest du sie!“
Darauf schüttelte das Mädchen langsam den Kopf. „Pst, Großvater“, mahnte sie ihn. „Sie wollen uns nichts Böses. Wisper würde es sonst wissen.“
Brin schaute schnell zu der riesigen Katze, die fast spielerisch im hohen Gras am Ufer des Weihers ausgestreckt lag und mit einer Pranke träge nach einem unglückseligen, vorbeischwirrenden Insekt schlug. Die großen ovalen Augen funkelten wie Leuchtfeuer, als das Tier zu ihnen herüberschaute.
„Das törichte Tier wollte nicht einmal kommen, als ich es rief!“ nörgelte der Alte. „Wie kannst du dich nur auf Wisper verlassen?“
Das Mädchen warf dem alten Mann einen vorwurfsvollen Blick zu, und eine Spur Trotz huschte über ihre jugendlichen Züge. „Wisper!“ rief sie leise und deutete auf Brin. „Such!“
Die riesige Katze stand plötzlich auf und tappte lautlos hinüber zu Brin. Das Talmädchen erstarrte, als die schwarze Schnauze des Tieres prüfend an ihren Kleidern schnupperte. Vorsichtig wollte sie zurückweichen.
„Beweg dich nicht!“ riet das Mädchen ihr gelassen.
Brin tat, wie ihr geheißen. Sie zwang sich, äußerlich ruhig zu erscheinen, und blieb wie versteinert stehen, als das riesige Geschöpf fast genüßlich an ihren Hosenbeinen hinabschnüffelte. Ihr war klar, daß das Mädchen sie auf die Probe stellte — sie benutzte die Katze, um ihre Reaktion zu prüfen. Ihr stellten sich die Nackenhaare zu Berge, als die riesige Schnauze nach ihr stieß. Was sollte sie machen? Sollte sie einfach nur stehenbleiben? Sollte sie das Tier anfassen, um zu beweisen, daß sie keine Angst hatte? Aber sie hatte nun einmal Angst, und diese Angst erfaßte ihren ganzen Körper. Gewiß würde das Tier es riechen, und dann...
Sie faßte einen Entschluß. Sie begann leise zu singen. Die Worte schwebten in der dunklen Abendstille, zogen durch die Ruhe der kleinen Lichtung, dehnten sich aus und streichelten wie zärtliche Finger. Es dauerte nur wenige Augenblicke, ehe das Wünschlied seine Zauberkraft entfaltete, und der Riesenkater setzte sich auf die Hinterläufe zurück und hielt die leuchtenden Augen auf das Talmädchen gerichtet. Er blinzelte schläfrig im Rhy thmus des Liedes und legte sich lammfro mm zu ihren Füßen.
Brin verstummte. Einen Moment lang sprach keiner ein Wort.
„Teufel seid ihr!“ kreischte der alte Mann schließlich mit boshaftem Ausdruck in dem verwitterten Gesicht.
Das Mädchen trat wortlos vor und stellte sich direkt vor Brin. In ihren Augen stand keine Angst, nur Neugier. „Wie hast du das gemacht?“ erkundigte sie sich offenbar erstaunt. „Ich hätte nicht geglaubt, daß irgend jemand das schaffen würde.“
„Es ist eine Naturbegabung“, antwortete Brin.
Das Mädchen zögerte. „Du bist kein Teufel, oder? Du bist keiner von den Wandlern oder etwas geistig Verwandtes zu ihnen?“
Brin lächelte. „Nein, nichts dergleichen. Ich habe nur dieses Talent.“
Das Mädchen schüttelte ungläubig den Kopf. „Ich hätte nicht gedacht, daß jemand Wisper so weit bringt“, wiederholte sie.
„Sie sind Teufel“, behauptete der Alte hartnäckig und stampfte wieder mit seiner Sandale auf.
Inzwischen war Wisper aufgestanden und zu Rone hinübergeschlendert. Der Hochländer schreckte vor Überraschung zusammen und warf Brin dann einen flehentlichen Blick zu, als das Tier seine schwarze Schnauze gegen ihn stieß. Es schnupperte noch einen Augenblick neugierig an seinen Kleidern. Dann riß es plötzlich die großen Kiefer auf, biß spielerisch in den rechten Stiefel und begann, daran zu zerren. Rone verlor rasch endgültig die Fassung und versuchte, sich zu befreien.