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„Auf mich wirkt er gefährlich“, bekannte Rone offen.

„Oh, das ist er auch“, stimmte das Mädchen ihm zu. „Sehr gefährlich. In der Wildnis wäre er unbezähmbar. Aber Wisper ist kein wildes Tier mehr. Vielleicht ist es noch ein Teil von ihm, eine Erinnerung oder ein tief irgendwo schlummernder Instinkt, aber der ist inzwischen längst vergessen.“

Sie stand auf und schenkte jedem von ihnen noch etwas Wein ein. „Gefällt euch unser Haus?“ fragte sie sie nach einer kleinen Weile.

„Sehr“, antwortete Brin.

Das Mädchen lächelte und freute sich sichtlich. „Ich habe die Einrichtung weitgehend selbst gemacht — bis auf die Glas- und Silbersachen; die hat Großvater von seinen Reisen mitgebracht. Und ein paar hatte er schon vor meiner Zeit. Aber der Rest ist mein Werk. Den Garten habe auch ich angelegt. Die ganzen Blumen, Sträucher und Gemüsepflanzen- all die kleinen Büsche und Ranken. Ich liebe Farben und süße Düfte.“

Brin lächelte ebenfalls. Kimber Boh war eine Mischung von Kind und Frau — in mancher Hinsicht noch sehr jung, in anderer erwachsener, als es ihren Jahren entsprach. Es war eigentümlich, aber sie erinnerte das Talmädchen an Jair. Bei diesem Gedanken vermißte sie ihren Bruder plötzlich schrecklich.

Kimber Boh sah ihren Gesichtsausdruck und mißdeutete ihn. „Es ist hier am Kamin wirklich nicht gefährlich“, versicherte sie dem Mädchen aus Shady Vale. „Für euch mag es diesen Anschein haben, weil euch das Land nicht vertraut ist wie mir. Aber vergeßt nicht, das ist mein Zuhause — hier bin ich aufgewachsen. Als ich klein war, brachte Großvater mir alles bei, was ich zu meinem Schutz wissen mußte. Ich habe mit den Gefahren hier umzugehen gelernt; ich weiß, wie ich ihnen aus dem Weg gehen kann. Und ich habe Großvater und Wisper. Du brauchst dir um mich keine Sorgen zu machen — wirklich nicht.“

Brin lächelte auf die Versicherung hin. „Das ist mir schon klar, Kimber. Ich sehe, daß du sehr tüchtig bist.“

Zu ihrer Überraschung errötete Kimber Boh. Dann erhob sich das Mädchen hastig und ging dorthin, wo Cogline seinen Waldumhang auf der Armlehne eines hölzernen Schaukelstuhls abgelegt hatte. „Ich muß Großvater seinen Mantel bringen“, erklärte sie schnell. „Es ist kalt draußen. Wollt ihr mich begleiten?“

Das Talmädchen und der Hochländer standen auf und folgten ihr, als sie die Tür aufmachte und hinaustrat. Sowie der Riegel aufschnappte, war Wisper auf den Beinen und trottete lautlos hinter ihnen nach draußen. Sie blieben auf der Veranda der kleinen Hütte stehen und genossen die Pracht des friedlichen abendlichen Stillebens. Die Luft war kühl, ein wenig feucht und duftete süß nach dem Wald, über den die Dunkelheit hereinbrach. Silbriger Mondschein ergoß sich über Rasen, Gartenblumen, säuberlich getrimmte Heckenreihen und Sträucher mit blendender Helligkeit. Jeder Grashalm, jedes weiche Blütenblatt und jedes winzige Blättchen glänzte feucht in dunklem Smaragdgrün und hatte einen Saum aus Reif, wo sich der Tau des Herbstabends sammelte. In der Dunkelheit jenseits ragten die Bäume des Waldes wie gewaltige Riesen vor dem Hintergrund des sternenerfüllten Himmels in die Höhe — zeitlos, stark und reglos in der Stille der Nacht. Der sanfte Wind der frühen Dämmerung hatte sich nun gänzlich gelegt und verebbte lautlos.

Selbst die vertrauten Rufe der Waldtiere waren zu schwachem fernen Gemurmel gedämpft, das besänftigend und beruhigend wirkte.

„Großvater wird bei der Weide sein“, vermutete Kimber Boh und durchbrach den Bann des Schweigens.

Gemeinsam traten sie von der Veranda auf den Gartenweg, der zur Rückseite des Häuschens führte. Niemand sprach ein Wort. Sie gingen nur langsam hinter dem Mädchen her, und ihre Stiefel scharrten leise über den ausgetretenen Stein. Etwas huschte durchs trockene Laub hinter den dunklen Schleier des Waldes und war verschwunden. Ein lauter Vogelschrei ertönte, der noch in der Stille eine Weile nachhallte.

Die drei bogen nun um die Ecke des Hauses und durchquerten eine Gruppe von Kiefern, Föhren und Heckenreihen. Dann tauchte vor ihnen eine gewaltige Trauerweide aus der Dunkelheit am Waldrand auf. Ihre dicht herabhängenden Äste wirkten vor dem Nachthimmel wie ein Vorhang. Sie war dick und knorrig, und ihre gedrungene Form lag in düstere Schatten gehüllt, als hätte sie sich in sich selbst zurückgezogen. Und dort unter ihrem gewölbten Baldachin glühte ein Pfeifenkopf tiefrot in der Dunkelheit, und Rauchwölkchen stiegen himmelwärts, um sich aufzulösen und zu verschwinden.

Als sie unter den tiefhängenden Zweigen der Weide hindurchschritten, sahen sie deutlich die magere Gestalt von Cogline, wo dieser vornübergebeugt auf einer von zwei Holzbänken am Fuß des alten Stammes saß und das faltige Gesicht dem dunkel gewordenen Wald zugewandt hielt. Kimber Boh ging direkt auf ihn zu und legte ihm das Cape um die Schultern.

„Du wirst dich erkälten, Großvater“, schalt sie ihn liebevoll.

Der alte Mann schnitt eine Grimasse. „Ich kann nicht einmal hier draußen in Ruhe rauchen, ohne daß du wie eine Glucke um mich herumflatterst.“ Trotzdem zog er den Umhang um sich, als er zu Brin und Rone herüberschaute. „Und die zwei brauche ich auch nicht, damit sie mir Gesellschaft leisten. Und auch nicht diesen nichtsnutzigen Kater. Wahrscheinlich hast du den auch mit hierhergeschleppt!“

Brin schaute sich nach Wisper um und stellte fest, daß er wieder untergetaucht war. Noch vor einem Augenblick hatte er direkt hinter ihnen gestanden.

Kimber Boh setzte sich neben ihren Großvater. „Warum versuchst du nicht wenigstens, dich mit Brin und Rone anzufreunden?“ fragte sie ihn ruhig.

„Wozu?“ fauchte der andere. „Ich brauche keine Freunde! Freunde bringen nichts als Ärger, erwarten nur stets, daß man etwas für sie tut, wollen stets bloß die eine oder andere Gefälligkeit. Hatte früher genug Freunde. Du verstehst zu wenig vom wirklichen Leben, Mädchen, das ist dein Problem.“

Das Mädchen warf einen entschuldigenden Blick zu Brin und Rone hinüber und nickte zu der freien Bank hin. Wortlos nahmen das Talmädchen und der Hochländer ihr gegenüber Platz.

Kimber Boh wandte sich wieder an ihren Großvater. „Du darfst nicht so sein. Sei nicht so egoistisch.“

„Ich bin ein alter Mann. Ich kann sein, wie ich mag!“ murmelte Cogline störrisch.

„Wenn ich solche Dinge sagte, hast du mich verzogen genannt und auf mein Zimmer geschickt. Erinnerst du dich noch?“

„Das war etwas anderes!“

„Soll ich dich vielleicht auf dein Zimmer schicken?“ fragte sie und sprach tatsächlich mit dem Alten wie eine Mutter mit einem Kind, während sie seine Hände in die ihren nahm. „Oder wäre es dir lieber, wenn Wisper und ich ebenfalls nichts mehr mit dir zu tun hätten, denn wir sind auch deine Freunde, und offenbar willst du ja keine haben.“

Cogline hielt den Pfeifenstiel zwischen den Zähnen, als wollte er ihn durchbeißen, saß mürrisch da, zusammengekauert in seinem Umh ang, und wollte keine Antwort geben. Brin schaute rasch zu Rone hinüber, der daraufhin eine Braue in die Höhe zog. Es war für beide offensichtlich, daß es trotz ihres jugendlichen Alters Kimber Boh war, welche die stabilisierende Kraft dieser eigentümlichen, kleinen Familie darstellte.

Dann beugte sich das Mädchen zu seinem Großvater hinüber und küßte ihn liebevoll auf die Wange. „Ich weiß, daß du selbst nicht so recht glaubst, was du da erzählst. Ich weiß, daß du ein guter, freundlicher, sanftmütiger Mann bist, und ich habe dich lieb.“

Sie schlang die Arme um den mageren Körper und drückte ihn fest an sich. Zu Brins Überraschung hob der Alte zögernd die Arme und erwiderte ihre Zärtlichkeit.

„Sie hätten fragen müssen, ehe sie hierher kamen“, brummte er und machte eine vage Handbewegung in Richtung des Talmädchens und des Hochländers. „Ist dir klar, daß ich ihnen ja etwas hätte antun können.“