„Wir müssen es versuchen, Brin“, meinte er leise.
Coglines runzliges Gesicht teilte sich breit zu einem spöttischen Grinsen. „Na, geh schon, Südländer — versuch es!“ Sein einfältiges Lachen hallte durch die nächtliche Stille.
Brin zögerte. Zu ihren Füßen hob Wisper, der ausgestreckt zwischen den Bänken lag und seinen grauschwarzen Körper dicht an seine Herrin kuschelte, den gewaltigen Kopf und zwinkerte neugierig. Das Talmädchen schaute tief in die blauen Kulleraugen. Wie jämmerlich war ihre Lage, daß sie auf die Hilfe eines Waldmädchens, eines halb verrückten alten Mannes und einer Katze, die sich in Luft auflösen konnte, zurückgreifen mußte!
Aber Allanon war schließlich tot...
„Wirst du für uns mit dem Finsterweiher reden?“ fragte sie Kimber.
Das Mädchen lächelte heiter. „Ach, Brin, ich dachte gerade, daß es vielleicht besser wäre, wenn du selbst zum Finsterweiher sprichst.“
Und in diesem Augenblick begann Cogline tatsächlich zu kichern.
32
Cogline kicherte immer noch, als die seltsame kleine Gesellschaft am nächsten Morgen zum Finsterweiher aufbrach. Er murmelte fröhlich vor sich hin, huschte achtlos und desinteressiert an allem, was um ihn vorging, vorüber, durch den laubbestreuten Wald und verlor sich ganz in der düsteren, halb irren Welt seines eigenen Denkens. Doch die scharfen, alten Augen wanderten oft zu Brins sorgenvollem Gesicht, und aus seinem Blick sprachen Arglist und Verschlagenheit. Und seine Stimme hatte stets einen boshaft und geheimniskrämerisch heiteren Unterton.
„Versuch es nur, Südland-Mädchen — ja, du mußt es wirklich versuchen! Haha! Sprich mit dem Finsterweiher und frag ihn nach allem, was geschehen wird! Hunderttausende von Jahren hat der Finsterweiher verfolgt, was die Menschheit sich selbst antut, und es aus Augen beobachtet, wie sie kein anderer hat! Frag, Südland-Mädchen — fasse nach dem Geisterwesen und hör zu!“
Dann ertönte erneut das Kichern, und er tanzte wieder davon. Immer wieder tadelte Kimber Boh ihn für sein Benehmen mit einem knappen Wort hier und einem harten, mißbilligenden Blick dort. Das Mädchen empfand das Verhalten des Alten als töricht und peinlich. Doch das tat keine Wirkung auf den alten Mann, und er foppte und spöttelte weiter.
Es war ein eisengrauer, nebliger Herbsttag. Der Himmel hing voll dicker Wolkenbänke vom dunklen Streifen des Wolfsktaags im Westen bis zu den verblassenden Baumwipfeln im Osten. Ein kühles Windehen wehte vom Norden herab und brachte in seinem Gefolge Staub und sprödes Laub, die vorüberwirbelten und in Gesicht und Augen brannten. Die Farbe des Waldgebiets wirkte im Morgenlicht blaß und verbraucht, und die erste Spur des herannahenden Winters schien sich in ihrem grauen Hauch widerzuspiegeln.
Die kleine Gesellschaft zog vom Kamin nordwärts; Kimber Boh führte sie finster und entschlossen an; ihr folgten dicht hinterdrein Brin und Rone Leah. Der alte Cogline hüpfte unterwegs die ganze Zeit über um sie herum; und Wisper streifte in weiter Ferne durch das dunkle Dickicht der Bäume. Sie kamen unter dem Schatten des hoch aufragenden Felsens hindurch, der dem Tal seinen Namen gegeben hatte, und gelangten von den weiten, strauchlosen Lichtungen der geschützten Senke in die Wildnis dahinter. Reisig und Gebüsch erstickten schier den Wald, den sie durchquerten, mit einer dichten und undurchdringlichen Anhäufung von Gehölz. Als der Mittag näherrückte, kamen sie nur noch schleppend voran. Cogline flatterte nicht mehr wie ein aufgescheuchter Vogel um sie her, denn die Wildnis umschloß sie alle sehr eng. Sie bahnten sich ihren Weg sorgsam hintereinander. Nur Wisper streifte ungehindert umher und strich wie ein Schatten lautlos und geschmeidig durchs Unterholz.
Als es Mittag wurde, war das Gelände noch unzugänglicher geworden, und in der Ferne erhob sich eine dunkle Reihe von Kammlinien über die Bäume. Findlinge und schluchtenartige Abhänge zerteilten das Land, das sie durchwanderten, und ihr Weg führte nun über weite Strecken bergan. Als die Berggrate näherrückten, schirmten sie den Wind ab, und der Wald roch nach Fäulnis und Moder.
Dann endlich hatten sie einen langen, steilen Hohlweg hinter sich gebracht und standen auf dem Kamm zu einem schmalen Tal, das sich zwischen zwei hochragenden Gebirgsketten dahinschlängelte, die nordwärts verliefen, bis sie sich im Nebel verloren.
„Da.“ Kimber deutete ins Tal hinab. Eine dichte Kieferngruppe umsäumte einen See, dessen Wasser nur zum Teil zwischen den in den Windböen umherziehenden Nebelschwaden zu erkennen war.
„Der Finsterweiher!“ kicherte Cogline, strich leicht mit dem Finger über Brins Arm und huschte wieder davon.
Sie durchquerten ein Labyrinth von Kiefern, welche die zerklüfteten Hänge des Tals schier erdrückten, und stiegen im Zickzack weiter hinab zu der Stelle, wo der Nebel träge über den kleinen See zog. Hier schien sie kein Wind zu erreichen; die Luft war still geworden, Ruhe herrschte im Wald. Wisper war völlig verschwunden. Steinbrocken und Kiefernnadeln lagen über den Boden verstreut, und knirschten unter ihren zermalmenden Stiefeln. Obwohl noch Mittagszeit war, schirmten Wolken und Nebel das Licht so völlig ab, daß es den Anschein hatte, als bräche die nächtliche Dunkelheit herein. Während Brin Kimber Bohs schmaler Gestalt folgte, lauschte sie unwillkürlich in die Stille des Waldes und suchte in dem düsteren Licht nach irgendeinem Anzeichen von Leben. Und als sie so horchte und suchte, wuchs in ihr ein Gefühl der Beklommenheit. Da war tatsächlich irgend etwas — etwas Übles, das sich versteckt hielt. Sie konnte fühlen, wie es auf der Lauer lag.
Tief in dem Kiefernwald breitete sich der Nebel um sie. Sie zogen weiter. Als es ihnen vorkam, als verschwänden sie gleich völlig, traten sie plötzlich von den Bäumen auf eine kleine Lichtung, wo alte Steinbänke eine offene Feuergrube umstanden, deren verkohlte Holzscheite und Asche schwarz waren von Feuchtigkeit.
Auf der gegenüberliegenden Seite der Lichtung verlor sich ein zerfurchter Weg im Nebel.
Kimber drehte sich zu Brin um. „Von hier an mußt du alleine weitergehen. Folge dem Pfad bis ans Ufer des Sees. Dort wird der Finsterweiher zu dir kommen.“
„Und flüstert dir Geheimnisse ins Ohr!“ gluckste Cogline, der sich neben ihr zu Boden kauerte.
„Großvater!“ mahnte das Mädchen.
„Dichtung und Wahrheit, aber was ist was?“ krächzte Cogline trotzig und hüpfte bis zum Rand der Kiefern.
„Laß dir von Großvater keine Angst einflößen“, riet Kimber, und ihr Koboldgesicht wirkte sehr besorgt, als sie Brins kummervollen Blick sah. „Der Finsterweiher kann dir nichts zuleide tun. Er ist nur ein Schatten.“
„Vielleicht sollte dich einer von uns begleiten“, schlug Rone beklommen vor, aber Kimber Boh schüttelte sogleich den Kopf.
„Der Finsterweiher spricht nur zu einer Einzelperson, niemals zu mehreren. Er wird sich gar nicht zeigen, wenn mehr als einer da ist.“ Das Mädchen lächelte aufmunternd. „Brin muß alleine gehen.“
Brin nickte. „Ich schätze, damit ist diese Frage geklärt.“
„Denk an meine Warnung“, mahnte Kimber sie. „Sei vorsichtig mit dem, was er sagt. Vieles davon wird falsch oder verzerrt sein.“
„Aber woher soll ich wissen, was Wahrheit ist und was Lüge?“ wollte Brin von ihr erfahren.
Kimber schüttelte noch einmal den Kopf. „Das wirst du selbst entscheiden müssen. Der Finsterweiher wird seine Spielchen mit dir treiben. Er wird dir erscheinen und zu dir sprechen. Er wird dich foppen. Das entspricht seiner Wesensart. Aber vielleicht beherrschst du diese Spielchen besser als er.“ Sie faßte nach Brins Arm. „Aus diesem Grund denke ich auch, daß besser du mit ihm reden solltest als ich. Du besitzt die Zauberkraft. Benutze sie, wenn du kannst.
Vielleicht findest du eine Möglichkeit, wie du dir das Wünschlied zunutze machen kannst.“
Coglines Gelächter ertönte vom Rand der kleinen Lichtung. Brin schenkte dem keine Beachtung, zog ihren Umhang fester um sich und nickte. „Vielleicht. Ich werde es versuchen.“