Kimber lächelte, daß sich ihr sommersprossiges Gesicht in Falten legte. Dann drückte sie das Talmädchen spontan an sich. „Viel Glück, Brin.“
Überrascht erwiderte Brin ihre Umarmung und führte eine Hand hoch, um über das lange, dunkle Haar zu streichen.
Rone trat etwas befangen hinzu und beugte sich herab, Brin einen Kuß zu geben. „Paß auf dich auf.“
Sie lächelte zum Versprechen, an seine Mahnung zu denken; dann raffte sie noch einmal den Mantel um sich, machte kehrt und verschwand zwischen den Bäumen.
Fast augenblicklich verschlangen sie Dunkelheit und Nebel so völlig, daß sie nach zehn Metern in dem Kiefernstreifen plötzlich die Orientierung verlor. Es geschah so schnell, daß sie noch weiterging, als ihr plötzlich auffiel, daß sie absolut nichts rings um sich her erkennen konnte. Darauf kamen ihr Zweifel, sie versuchte recht hoffnungslos, mit ihren Augen die Finsternis zu durchdringen, und wartete, daß sie sich an sie gewöhnten. Die Luft war wieder frisch geworden, und der Dunst vom See durchdrang ihre Kleider mit eisigem, feuchtem Griff. Es vergingen ein paar lange sorgenvolle Augenblicke, bis sie feststellte, daß sie vage die schlanken Umrisse der nächststehenden Kiefern wahrnehmen konnte, die im dahinziehenden Nebel wie Gespenster auftauchten und wieder verschwanden. Sie kam zu dem Schluß, daß die Sichtverhältnisse sich kaum mehr bessern würden. Sie verdrängte ihr Unbehagen und ihre Unsicherheit und ging vorsichtig weiter; mit ausgestreckten Händen erfühlte sie mehr den Weg durch die Bäume, der sich weiter zum See hinabwand, als daß sie ihn sah.
Die Minuten verstrichen, dann vernahm sie aus der Stille des Nebels und des Waldes das leise Plätschern von Wasser an einem Ufer. Sie verlangsamte ihren Schritt und spähte wachsam in den Dunst ringsum nach dem Wesen, das ihres Wissens auf sie wartete. Doch es war nichts zu sehen als graue Nebelschleier. Vorsichtig ging sie weiter.
Dann plötzlich wurden Bäume und Nebel lichter und teilten sich vor ihr, und sie stand an einem schmalen, steinigen Ufer mit Blick über die grauen Wasser des Sees, in dem sich die Wolken spiegelten. Die Oberfläche dehnte sich öde in den Dunst, Nebelschwaden hüllten sie ein und umschlossen sie...
Ein eisiger Hauch durchströmte sie, höhlte ihren Körper aus und ließ ihn als eisige Hülle zurück. Sie schaute sich schnell und furchtsam um. Was war da? Dann stieg heftiger, bitterer Zorn in ihr auf, der in seinem Streben nach Vergeltung eisenhart war. Ein Feuer brannte die Kälte aus, loderte in wilder Entschlossenheit hoch und vertrieb die Angst, die sie zu überwältigen drohte. Als sie so alleine eingehüllt in den Nebel am Ufer dieses kleinen Sees stand, fühlte sie, wie eine eigentümliche Kraft sie durchflutete, die, so schien es in diesem Augenblick, stark genug war, alles zu vernichten, was sie angreifen könnte.
Plötzlich rührte sich etwas in dem Nebel. Sogleich war das seltsame Gefühl von Macht verflogen, war wie ein Dieb geflüchtet, hatte sich zurückgezogen in ihre Seele. Sie verstand nicht, was ihr in jenen wenigen Augenblicken widerfahren war, und nun war auch nicht die Zeit, darüber nachzudenken; in dem Nebel rührte sich etwas. Ein Schatten zog sich zusammen und nahm Gestalt an, indem er aus dem Grau ringsum Dunkelheit ansaugte. Aus den Wassern des Sees erstanden und geformt, kam er auf sie zu.
Das Talmädchen sah das verhüllte, geisterhafte Wesen näherrücken, das lautlos in den Luftströmungen da hinglitt und aus dem Dunst auf die Uferlinie zuschwebte, wo das Mädchen wartete. Es trug Umhang und Kapuze, und war so körperlos wie der Nebel, aus dem es geboren war, zwar von menschlicher Gestalt, doch ohne menschliche Züge.
Der Schatten wurde langsamer und verharrte in drei Metern Entfernung von ihr über dem Wasser schwebend. Er hielt die bekleideten Arme locker vor sich verschränkt, seine graue Gestalt verströmte weitere Nebelschwaden. Langsam hob sich der Kopf unter der Kapuze in Richtung des Mädchens am Ufer, und zwei Stecknadelkopfgroße, rote Feuerpünktchen glühten daraus hervor.
„Sieh mich an, Mädchen aus dem Tal“, flüsterte der Schatten mit einer Stimme, als entwiche irgendwo Dampf. „Sieh den Finsterweiher an!“
Der verhüllte Kopf reckte sich höher, und die Schatten, die das Gesicht des Wesens verhüllt hatten, wichen von ihm. Brin starrte ihn in namenlosem Staunen an.
Das Gesicht, das der Finsterweiher ihr zeigte, war ihr eigenes.
Jair kam unruhig in der naßkalten, einsamen Dunkelheit der Zelle auf Dun Fee Aran, wo er gefangenlag, zu sich. Ein dünner Strahl grauen Lichts stieß wie ein Messer durch das winzige Luftloch der von steinernen Mauern umschlossenen Kammer. Es war wieder Tag, dachte er bei sich, und versuchte verzweifelt, sich ein Bild von der Zeit zu machen, die seit seiner Einkerkerung vergangen war. Ihm erschien es wie Wochen, doch ihm war klar, daß es erst der zweite Tag seiner Gefangenschaft war. Er hatte kein anderes Lebewesen als den Mwellret und seinen schweigsamen Gnomen-Wärter gesehen oder gesprochen.
Er streckte sich behutsam und setzte sich dann in dem muffigen Strohlager auf. Ketten banden Hand- und Fußgelenke zusammen und waren an Eisenringen in der Steinmauer befestigt. Er trug sie seit dem zweiten Tag seiner Einkerkerung. Der Wärter hatte sie ihm auf Stythys’ Geheiß angelegt. Wenn er sein Gewicht verlagerte, rasselten und klapperten sie laut in der tiefen Stille, daß es aus den Korridoren hinter der eisenbeschlagenen Zellentür widerhallte. Erschöpft trotz des langen Schlafs lauschte er, wie die Echos erstarben, und wartete, daß irgendein anderes Geräusch an seine Ohren dringen würde. Nichts war zu vernehmen. Da draußen gab es niemanden, der ihn hören konnte, niemanden, der ihm zu Hilfe käme.
Tränen schössen ihm in die Augen, rannen seine Wangen hinab und benetzten seine besudelte Hemdbrust. Was dachte er sich bloß? Daß jemand auftauchte, ihm bei der Flucht aus diesem finsteren Gefängnis behilflich zu sein? Er schüttelte den Kopf über die eigene schmerzliche Gewißheit, daß es für ihn keine Hilfe mehr gäbe. Die ganze Gruppe von Culhaven war dahin — verloren, tot oder verstreut. Sogar Spinkser. Er wischte grob seine Tränen fort und kämpfte gegen seine eigene Verzweiflung an. Es spielte keine Rolle, daß niemand käme. Er würde dem Mwellret niemals geben, was dieser begehrte, gelobte er im Stillen. Und irgendwie würde er schon einen Fluchtweg finden. Wieder einmal — wie stets, wenn er erwachte, rüttelte er an den Pinnen und Verschlüssen der Ketten, die ihn banden, in der Hoffnung, sie so weit zu lockern, daß er sich losreißen konnte. Eine lange Weile drehte und zerrte er an dem Eisen und betrachtete im Dunkeln voller Hoffnung die Verbindungsglieder. Doch schließlich gab er es auf, wie immer, denn es war zwecklos, Fleisch und Blut an Schmiedeeisen zu messen. Nur der Schlüssel des Wärters konnte ihm die Freiheit bescheren.
Freiheit. Er sprach das Wort in der Stille seines Denkens aus. Er mußte einen Weg in die Freiheit finden. Er mußte.
Dann dachte er an Brin; und mit diesem Gedanken grübelte er auch wieder über das nach, was er beim letzten Mal im Spiegel seines Sehkristalls erblickt hatte. Was für ein eigentümlicher und trauriger Anblick war das gewesen — seine Schwester alleine an einem Lagerfeuer mit von Trauer und Verzweiflung gezeichnetem Gesicht, das sie dem Wald zugewandt hielt. Was war Brin nur zugestoßen, das sie so unglücklich machte?
Befangen fuhr seine Hand zu der kleinen Wölbung der Kristallkugel, wo diese unter seinem Hemd versteckt lag. Stythys hatte bis jetzt weder sie noch den Beutel Silberstaub entdeckt, und Jair hatte sorgsam darauf geachtet, daß beides unter seiner Kleidung versteckt blieb, wann immer der Mwellret in seiner Nähe war. Das Geschöpf suchte ihn allzu oft heim, glitt lautlos aus dem Dunkel, wenn der Talbewohner es am wenigsten erwartete, und stahl sich aus den Schatten wie ein widerlicher Geist, um ihn zu beschwatzen und zu umschmeicheln, Versprechungen und Drohungen auszusprechen: Gib mir, was ich verlange, und du bekommst deine Freiheit... Sag mir, was ich wissen möchte!