Bonaparte, jetzt auf Lebenszeit zum Konsul ernannt, hatte Piemont und Elba annektiert und machte keinen Hehl aus seiner Absicht, Malta wieder in Besitz zu nehmen, sobald England dort seine Flagge zugunsten einer scheinbaren Unabhängigkeit der Insel gestrichen hatte.
Mit dem Begreifen ging eine Welle der Erregung durch die Messe. Das war das Ende des Friedens von Amiens, dachte Bolitho. Er hatte kaum so lange gewährt, wie die Unterschriften zum Trocknen brauchten.
Er fuhr fort:»Wir haben Befehl, auf San Felipe zu bleiben, bis entsprechende Streitkräfte aus Antigua und Jamaika eintreffen, um die Inselgarnison zu verstärken. «Und in Keens Richtung, der den Blick abwandte, weil er offenbar ahnte, was nun kam:»Der augenblickliche Gouverneur wird so schnell wie möglich abgelöst. Sir Humphrey Rivers kehrt nach England zurück, um sich vor Gericht wegen Hochverrats zu verantworten.»
Es bereitete Bolitho keine Genugtuung, sich vorzustellen, wie Rivers nach seinem Leben in Luxus und Reichtum die Heimkehr auf einem Kriegsschiff schmecken würde, dem ersten halbwegs geeigneten, das die Insel Richtung England verließ. Und nach dieser unerwarteten politischen Entwicklung erwartete ihn wahrscheinlich der Strick des Henkers.
Bolitho blickte von einem Gesicht zum anderen und schloß:»Sie alle haben sich äußerst tapfer geschlagen, und ich möchte Sie bitten, auch der Mannschaft meinen Dank zu übermitteln.»
Keen sah Bolitho zum erstenmal seit langem lächeln.»Und wenn alles geregelt ist«, setzte ihr Vizeadmiral hinzu,»fahren wir heim.»
Das brachte sie auf die Beine; sie lachten und schrien durcheinander wie Schuljungen.
Keen hielt die Tür auf, damit sich Bolitho unauffällig zurückziehen konnte. Er hatte zwei Briefe von Belinda erhalten und nun endlich Zeit, sie in Ruhe noch einmal von Anfang bis Ende zu lesen.
Als Keen und Adam ihm die Treppe hinauf folgten, fragte der Kommandant:»Bedeutet das Krieg, Sir?»
Bolitho dachte an die jungen, jubelnden Gesichter, die er gerade verlassen hatte, und auch an Quantocks säuerliche Mißbilligung.
«Für mich gibt es daran kaum noch Zweifel, Val«, antwortete er.
Keen sah sich im Halbdunkel um, als müsse er sein Schiff sogleich gefechtsklar machen.»Herr im Himmel, Sir, wir haben uns vom letzten noch kaum erholt!»
Als sich Bolitho der rotuniformierten Wache vor seiner Kajüte zuwandte, hörte er Alldays neuerdings so schleppenden Schritt hinter der Tür.»Manche werden sich nie mehr erholen«, sagte er.»Für sie ist es zu spät.»
Keen seufzte und sagte zu Adam:»Kommen Sie mit, Mr. Bolitho, wir trinken einen Schluck. Zweifellos werden Sie ein eigenes Schiff befehligen, wenn es zum Krieg kommt. «Er lächelte schief.»Erst dann werden Sie merken, wie hart das Leben sein kann.»
In seiner großen Achterkajüte machte Bolitho es sich bequem und entfaltete den ersten Brief.
Es ging heimwärts. Seine Leute wären überrascht gewesen zu hören, daß diese Worte für ihren Vizeadmiral genausoviel bedeuteten wie für sie selbst.
Und dann glaubte er, ihre sanfte Stimme aus den Zeilen sprechen zu hören, als er las: Mein geliebter Richard…
«Sorgen Sie dafür, Yovell, daß diese Briefe mit den anderen an Bord der Kurierbrigg gebracht werden.»
Bolitho lauschte dem Knarren der Taljen, das durchs Oberlicht hereindrang, dem Getrappel vieler Füße, als wieder ein Netz mit frischem Proviant über das Schanzkleid gehievt wurde.
Nach dem monatelangen Warten fiel es immer noch schwer zu glauben, daß der Augenblick des Aufbruchs für sie gekommen war. Obwohl sie wirklich keine Zeit zur Muße gefunden hatten.
Eine schnittige Fregatte und zwei Mörserboote lagen nun unterhalb der Batterie vor Anker, und ein großer Truppentransporter hatte die versprochene Verstärkung für die Garnison gebracht. Bolitho mußte lächeln, als ihm einfiel, wie Lemoine seine Ablösung durch einen Obersten kommentiert hatte.
«Und dabei habe ich gerade Geschmack an der Macht gefunden«, hatte der Leutnant gesagt.
Bolitho hörte Alldays Schritt in der Pantry und blickte auf, um ihn zu begrüßen. Allday hatte große Fortschritte gemacht und sogar wieder etwas Farbe gewonnen, aber er konnte die Schultern immer noch nicht gerade halten, und der blaue Rock mit den Goldknöpfen hing lose um seine mächtige Gestalt.
Seit seiner Verwundung mußten jetzt sechs Monate vergangen sein und drei seit der Ankunft des Kurierschiffs mit den Anweisungen der Admiralität, die das Schicksal der Insel endgültig regelten.
Bolitho sagte:»Wenn wir England erreichen, wird es dort Frühling sein. Ein volles Jahr ist seit unserem Auslaufen vergangen.»
Dabei beobachtete er Alldays Gesicht, aber der zuckte nur mit den Schultern und antwortete:»Wahrscheinlich hat sich die ganze Aufregung bis dahin wieder gelegt, Sir.»
«Kann sein.»
Allday grübelte also immer noch, fürchtete das Land mehr als die Gefahren auf See. Einem alten Seemann ging es da nicht anders als seinem Schiff: sobald es unnütz festlag und nicht mehr gebraucht wurde, war es zum Verfall verurteilt.
Bootsmannspfeifen schrillten an Deck oben und Befehle wurden gebrüllt, während die Seitenwache an der Pforte aufzog.
Bolitho erhob sich und ließ sich von Ozzard seinen Paraderock bringen. Mit der Fregatte war auch der neue Gouverneur für San Felipe eingetroffen, ein schmächtiger Mann mit einem Vogelgesicht, der im Vergleich zu Rivers farblos wirkte.
Und er brachte die Anweisung mit, daß Rivers auf Achates nach England zurückgeschafft werden sollte. Pech für uns beide, dachte Bolitho.
Oder wie Keen bemerkt hatte:»Hölle und Teufel, warum ausgerechnet wir? Die Pest über diesen Mann!»
Ozzard klopfte an dem goldbetreßten Uniformrock herum und musterte die Goldepauletten mit sachkundigem Interesse. Dann griff er nach dem Prunksäbel an der Wand, ließ aber die Hände sinken, als Bolitho schnell den Kopf schüttelte.
Er wartete darauf, daß Allday die alte Familienwaffe von ihrem Platz nahm und ihm an den Gürtel schnallte, wie immer.
Bolitho hatte Belinda von Alldays Mut geschrieben und auch den Preis erwähnt, den er dafür hatte zahlen müssen. Sie würde besser als jeder andere wissen, was jetzt zu tun war. Mit einem schnellen Kurier mußten seine Briefe lange vor Achates in England sein.
«Danke. Ich gehe und begrüße unseren — an — Gast.»
Allday begleitete ihn an Deck, wo Bolitho Rivers an der Eingangspforte warten sah, flankiert von seiner Eskorte. Er trug Handschellen, und Leutnant Lemoine beeilte sich zu erklären:»Befehl des Obersten,
Sir.»
Bolitho nickte unbeeindruckt.»An Bord befindet sich Sir Humphrey in meinem Gewahrsam, Mr. Lemoine. Und ich wünsche nicht, ihn in Eisen zu sehen. «Die überraschte, fast erschreckte Dankbarkeit in Rivers' Blick blieb ihm nicht verborgen. Dann sah er seine Augen zum Vormasttopp schweifen, wo die Flagge in der frischen Brise auswehte. Da er selbst Vizeadmiral gewesen war, suchte er diesen Anblick wohl bis zuletzt auszukosten.
«Meinen Dank dafür, Bolitho.»
Bolitho sah Keen im Hintergrund die Stirn runzeln.»Das ist aber auch alles, obgleich das mindeste, was ich für Sie tun kann.»
Rivers blickte hinüber zur Stadt, an deren Uferstraße sich eine Menschenansammlung eingefunden hatte, um ihn abreisen zu sehen. Kein Jubel, aber auch keine Schmährufe. Typisch für die Insel, dachte Bo-litho, mit ihrer stürmischen Vergangenheit und Ungewissen Zukunft.
Aber was kümmerte es ihn? Warum sollte er den Mann bedauern, diesen Verräter und Piraten, dessen selbstsüchtige Gier so viele Menschenleben gefordert hatte? Rivers hatte zwei Söhne, die in London lebten und ihm schon einen tüchtigen Verteidiger für seinen Prozeß besorgen würden. Vielleicht konnte er sich sogar noch einmal herausreden. Die im Kriegsfall so wertvolle Wehrhaftigkeit der Insel ging schließlich zum großen Teil auf ihn zurück, auch wenn seine Motive dabei anderer Art gewesen waren.