Bolitho mußte sich eingestehen, daß die Hauptschuld bei den allmächtigen Herren in London lag, die es zugelassen hatten, daß Rivers seine Macht zum eigenen Vorteil immer weiter ausbaute.
Keen sah Rivers nach, der nach unten geführt wurde, und murrte:»Ich hätte ihn in die Arrestzelle gesteckt.»
Bolitho lächelte.»Wenn Sie jemals in Gefangenschaft geraten, Val, was hoffentlich niemals geschehen wird, dann werden Sie mich verstehen.»
Ungerührt grinste Keen.»Aber bis dahin, Sir, kann ich ihn nicht ausstehen.»
Fähnrich Ferrier trat heran, grüßte und meldete Keen:»Mr. Tyrrell ist an Bord gekommen, Sir.»
Bolitho wandte sich um. Tyrrell hatte sich seit dem Verlust seiner Vivid überwiegend an Land aufgehalten, wohl um — wie Bolitho vermutete — nicht darüber sprechen zu müssen. Oder hatte er, — unabhängig wie immer, sich einen Platz auf einem anderen Schiff gesucht?
Nun mußte er gehört haben, daß Achates bald auslaufen würde. Schließlich war das ein offenes Geheimnis auf der Insel. Wenn Achates erst den Ozean überquert hatte, würde es auf San Felipe einige neugeborene Kinder geben, hell- oder dunkelhäutige. Es stimmt Bo-litho froh, die Abschiedsrufe zu hören, die zwischen den Booten und dem Kai gewechselt wurden. Achates hatte über die Toppen geflaggt und war bis zum Rand voll frischer Früchte und Geschenke, überreicht von der Inselbevölkerung, die das Schiff einst so gehaßt und gefürchtet hatte.
Tyrrells wettergegerbter Kopf erschien auf der Leiter zum Achterdeck, und Bolitho ging ihm entgegen.
«Will mich nur schnell verabschieden, Dick. Von Ihnen und dem Junior. Wenn ich ihn das nächste Mal sehe, ist er bestimmt Kapitän.»
Wie Allday tat sich auch Tyrrell schwer; er würde im nächsten Augenblick auf seinem verhaßten Holzstumpf schleunigst das Weite suchen. Bolitho dachte über die rechten Worte nach, denn er wußte, daß Tyrrell jede wohlgesetzte Rede als Beweis für Mitleid, ja sogar Herablassung auffassen würde.
«Fahren Sie jetzt nach Hause zurück, Jethro?»
«Hab kein Zuhause, ist alles hin. Das wissen Sie doch, verdammt noch mal!«Aber er beherrschte sich sofort wieder.»Tut mir leid. Unser Wiedersehen hat mich ziemlich aus dem Gleis geworfen.»
«Mich auch.»
«Tatsächlich?«Mißtrauisch starrte Tyrrell ihn an, einer Lüge gewärtig.
«Ich habe mir überlegt…«Aus dem Augenwinkel sah er Knocker zum Ersten Offizier hasten, der sich seinerseits an den Kommandanten wandte. Bolitho wußte den Grund, auch er hatte den Wechsel der Windrichtung im Gesicht gespürt, schon als er mit Rivers sprach. Viel half das nicht, aber in dieser wetterwendischen Weltgegend mußte man aus allem das Beste machen. Doch er untersagte sich den Blick zur Windfahne im Masttopp, weil er sich nicht ablenken lassen wollte, sondern fuhr fort:»Wie wär's mit England?»
Tyrrell warf den Kopf zurück und lachte rauh.»Mann Gottes, was sagen Sie da? Was soll ich in England?»
Bolitho blickte an ihm vorbei zum Land hinüber.»Ihr Vater stammt aus Bristol, wie ich mich erinnere. Das ist nicht weit von Cornwall, von uns.»
Auch Tyrrell war die plötzliche Aktivität an Bord nicht entgangen, er interpretierte sie richtig: ein Schiff vor dem Auslaufen. Aber in die Heimat.
Verzweifelt antwortete er:»Ich bin ein Krüppel, Dick, wozu wäre ich schon nütze?»
«Westengland hat eine Menge Schiffe wie die Vivid.»
Bolitho sah Keen herankommen. Er konnte nicht länger warten.»Jedenfalls möchte ich, daß Sie mitfahren«, sagte er abschließend.
Tyrrell blickte sich um, als könne er seinen Augen und Ohren nicht mehr trauen.
«Aber Hand für Koje, darauf bestehe ich.»
Bolitho lächelte.»Dann ist das also abgemacht.»
Sie tauschten einen Händedruck, wobei Tyrrell versprach:»Bei Gott, Sir, das sollen Sie niemals zu bereuen haben!»
Bolitho wandte sich an seinen Flaggkapitän.»Bringen Sie das Schiff in Fahrt, Val, wenn Sie soweit sind.»
Keen drehte sich um und rief:»Alle Boote einsetzen! Beide Wachen an Deck, Mr. Quantock!»
Ein letztes Mal blickte er hinüber zu Bolitho und dem Einbeinigen, die an der Querreling standen, und schüttelte den Kopf.
Die Toppsgasten enterten behende auf und legten auf den Rahen aus, das Ankerspill wurde bemannt, und bald zeigte Achates dem Land das Heck und glitt langsam seewärts, auf ihren Anker zu.
«Hören Sie sie, Jethro?«fragte Adam aufgeregt.»Sie jubeln uns zu!»
Das Ufer war gesäumt mit Menschen, die Tücher schwenkten und Abschiedsgrüße übers Wasser riefen, während das große Ankerspill das Schiff mit jedem Klicken weiter dem Land entzog.
Tyrrell nickte.»Ja, mein Junge, diesmal jubeln sie.»
Hauptmann Dewar kam schneidig heranmarschiert und griff schwungvoll grüßend zu seinem Hut.»Also gut«, sagte Keen, der sich von der allgemeinen Fröhlichkeit anstecken ließ,»lassen Sie aufspielen. Das wollten Sie doch gerade vorschlagen, wie?»
Bolitho spürte, daß er den Handlauf unnötig fest umklammerte. Solch einen Abschied hatte er schon ungezählte Male erlebt, aber trotzdem war es diesmal anders.
«Anker ist kurzstag, Sir!»
«Vorsegel los!»
Bolitho wandte sich um und sah Allday neben sich stehen. Seine rechte Hand.
«An die Brassen!«Mit vorgerecktem Kopf tigerte Quantock an Deck hin und her; im Augenblick jedenfalls war seine Verbitterung über den komplizierten Anforderungen seines Handwerks vergessen.
«Anker ist frei!»
Es war kein schneidiges Manöver unter Vollzeug und mit starker Krängung, nein, Achates ging langsam und mit der ganzen Würde ihrer Jahre durch den Wind, ließ die Sonne kurz von ihrer Galionsfi-gur reflektieren und dann auf den verschalkten Stückpforten und der frisch gestrichenen Rumpfwölbung schimmern.
«Bramsegel los, aber bißchen plötzlich, Mr. Scott! Ihre Leute sind heute lahm wie alte Weiber!»
Knallend füllten sich die Segel mit Wind, bis sie steif wie Bretter standen; mit einer leichten Bugwelle unter ihrem Wasserstag glitt Achates auf die Hafenausfahrt zu.
Bolithos Augen hingen an dem schmalen Fahrwasser, das ihm nicht viel breiter vorkam als ein Hoftor. Auch Keen, das sah er mit einem kurzen Seitenblick, mußte wieder daran denken, wie sie bei völliger Dunkelheit hier durchgebrochen waren.
«Recht so!«Das war Knockers Stimme. Sogar er schien ungewohnt heiter, als er fortfuhr:»Mr. Tyrrell, Sie kennen sich hier besser aus. Ich wäre Ihnen dankbar für Ihren Rat.»
Hoch über ihnen glitt die Festung vorbei und darunter der leicht ansteigende Feldweg, auf dem der Trommelbube gefallen war und Rivers seinen größten Fehler gemacht hatte.
Die Flagge über dem alten Turm wurde grüßend gedippt; auf der zinnenbewehrten Bastion stand eine Reihe rotuniformierter Soldaten mit aufgepflanzten Bajonetten und salutierend gesenkten Fahnen. Die Bramsegel von Achates warfen huschende Schatten auf die Festungsmauern.
«So schnell werden die das alte Käthchen nicht vergessen«, murmelte Allday. Lauschend wandte er sich um, als der kleine Musikzug mit seinen Pfeifern und Trommlern ein munteres Abschiedslied anstimmte.
Bolitho sah, daß Alldays Hand noch einmal zur Wunde tastete, aber dann zog er sie entschlossen zurück und legte sie neben seiner auf den Handlauf.
Als lasse er mit der Insel auch den Schmerz hinter sich zurück.
XVI Das Geheimnis
Bolitho stieg die nassen Planken zur Luvseite hinauf und griff haltsuchend in die Wanten des Besanmasts.
Das Schiff schüttelte sich und stampfte schwer in den hohen Seen, die mit ungebrochener Wucht schräg gegen sein Achterschiff anrannten.
Wieder einmal sackte der Bug weg, donnernd stieg die See übers Vorschiff ein und schäumte wie ein Wasserfall auf dem oberen Batteriedeck nach achtern, umbrandete die Kanonen und gurgelte schließlich durch die Speigatten außenbords — bis zum nächsten Ansturm.