Er sagte:»Es gibt immer noch eine Hoffnung, Val. Ändern Sie Kurs und lassen Sie ein Boot aussetzen, wenn wir nahe genug sind.»
Eine Stunde später, als Achates unter verringerter Segelfläche unruhig hoch am Wind lag, pullte das große Seitenboot hastig auf die Stelle zu, wo ein Teppich dunkler Wrackteile im Wasser trieb.
Bolitho stand mit einem Teleskop auf dem Hüttendeck und studierte die kläglichen Überreste, auf die Achates' Bugspriet zeigte. Ein großes Schiff konnte es nicht gewesen sein, überlegte er. Wahrscheinlich hatte eine von achtern kommende Monstersee sein ungeschütztes Heck so unter Wassermassen begraben, daß es sich nicht mehr aufrichten konnte.
Keen ließ sein Glas sinken.»Dort ist ein Boot, Sir!»
Bolitho schwenkte sein Fernrohr in die angezeigte Richtung und starrte zu dem halb überspülten, mit Schlagseite im Wasser liegenden Ding hinüber, das einst eine Barkasse gewesen war.
«Mit Überlebenden«, rief Keen.»Zwei jedenfalls.»
Leutnant Scott, der Achates' Seitenboot befehligte, trieb seine Rudergänger bereits zu noch größerer Anstrengung an; auch er hatte die Schiffbrüchigen gesichtet.
Bolitho hörte Tyrrells Holzbein auf den Planken hinter sich und fragte:»Was halten Sie davon, Jethro?»
Tyrrell mußte keinen Augenblick überlegen.»Das ist ein Franzose. Oder war jedenfalls einer.»
Keen richtete sein Glas aus und sagte erregt:»Sie haben recht! Und außerdem war's kein Handelsschiff.»
Bolitho sah den Arzt Tuson mit seinen Gehilfen an der Eingangspforte warten, wo ein Flaschenzug aufgeriggt worden war, mit dem die Schiffbrüchigen an Bord gehievt werden sollten.»Wer spricht von uns am besten französisch?«fragte er.
Keen zögerte keinen Augenblick.»Mr. Mansel, der Zahlmeister. Er war vor dem Krieg Weinhändler.»
Bolitho mußte lächeln. Er hatte es anders im Gedächtnis, nämlich daß Mansel Schmuggler gewesen war.
«Gut, er soll sich bereithalten. Vielleicht erfahren wir, was hier passiert ist.»
Insgesamt retteten sie zehn Überlebende. Der wilde Seegang hatte sie so lange geschunden und herumgestoßen, daß sie — fast blind und halb bewußtlos — so weit von Land schon jede Hoffnung auf Rettung aufgegeben hatten. Ihr Schiff war die Brigg La Prudente gewesen, unterwegs von Lorient in Richtung Martinique. Eine See hatte ihren Kommandanten über Bord gerissen; der Erste hatte es zwar noch geschafft, ein Boot auszusetzen, war aber dann von einem herabstürzenden Wrackteil erschlagen worden. Der Tote lag noch im Boot, sein Gesicht leuchtete gespenstisch weiß aus dem Wasser, das schon fast bis zum Dollbord stand.
Der Bootsmann rief:»Soll ich es treiben lassen, Sir?»
Aber Leutnant Scott griff nach einem Bootshaken und zog den toten Leutnant heran.
Die Schiffbrüchigen mochten zu benommen und erschöpft gewesen sein, als daß sie ihren toten Offizier hätten über Bord werfen können. Bolitho sah zu, wie man sie nun zu einem Niedergang trug oder geleitete; sie schienen immer noch nicht zu begreifen, was mit ihnen geschah.
Keen meldete:»Mr. Scott hat etwas gefunden, Sir.»
Der tote Leutnant wurde gerade über das Schanzkleid gehievt, Wasser floß ihm aus Mund und Uniform, als er wie ein Gehenkter am Galgen pendelte, bis er auf das Seitendeck niedersank.
Scott kam nach achtern gelaufen und griff salutierend zum Hut.»Dies hier hatte er um seine Taille gebunden, Sir. Ich konnte es sehen, als das Boot rollte.»
Bolitho sah Keen an und kam sich vor wie ein Leichenfledderer. Arme und Beine gespreizt, lag der französische Leutnant auf dem Deck, das eine Augenlid halb geöffnet, als sei ihm das Licht zu hell.
Black Joe Langtry, der Schiffsprofos, breitete ein Stück Segeltuch über den Leichnam, zog ihm aber vorher noch eine Pistole aus dem Gürtel.
Keen sah die Adresse des Umschlags.»Wie vermutet: von Lorient nach Martinique«, sagte er.
Bolitho nickte. Er brauchte einige Zeit, bis er den dicken Leinenumschlag aufgerissen und die eindrucksvollen, scharlachroten Siegel erbrochen hatte. Dann reichte er den Inhalt an Mansel weiter.
Die Lippen des Zahlmeisters bewegten sich, während er die gewählten Wendungen der Depesche las, die an den kommandierenden Ad-miral der westindischen Flotte in Fort de France gerichtet war.
Kein Wunder, daß der Leutnant den Brief unter allen Umständen hatte retten wollen.
Unter den beobachtenden Blicken wurde es dem Zahlmeister unbehaglich; er blickte auf und sagte:»Soweit ich es verstehe, Sir, steht hier, daß sofort nach Empfang dieser Depesche die Feindseligkeiten gegen England und seine überseeischen Besitzungen wieder aufzunehmen sind.»
Keen starrte Bolitho an.»Allein das reicht schon völlig!»
Bolitho beobachtete, wie das Seitenboot zum Anbordhieven in die Taljen gehängt wurde. Er brauchte Zeit zum Nachdenken, wollte Glück, Zufall und einen beiläufigen Akt der Menschlichkeit gegeneinander abwägen.
Schließlich sagte er:»Diesmal hat uns der Sturm einen Gefallen getan, Val.»
Keen sah zu, wie Bolitho eine Handvoll Pistolenkugeln aus dem Briefumschlag schüttelte: Ballast, der ihn eher auf den Meeresgrund sinken als in falsche Hände geraten lassen sollte. Aber der Leutnant war zu schnell gestorben und seine Crew zu ahnungslos oder zu furchtsam gewesen.
Keen sagte:»Jetzt handelt es sich also nicht mehr nur um eine Drohung. Wir haben tatsächlich Krieg.»
Bolitho lächelte nachdenklich.»Zumindest wissen wir es früher als andere; das ist immer von Vorteil.»
Mit neu getrimmten Rahen und hartgelegtem Ruder wandte Achates ihren Bugspriet von den treibenden Wrackteilen und dem voll Wasser gelaufenen Boot ab, das binnen kurzem sinken mußte.
Nach Sonnenuntergang wurde der französische Leutnant mit allen Ehren der See übergeben. Bolitho wohnte der Bestattung mit Adam und Allday bei und hörte Keen ein Gebet sprechen, ehe der Tote von der Gräting rutschte und im Kielwasser versank.
Der nächste Franzose, den sie trafen, würde nicht so friedlich sein, dachte Bolitho.
«Also, Sir Humphrey, wie ich hörte, wollen Sie mich sprechen.»
Bolitho ließ sich nichts anmerken, war aber entsetzt über den Wandel in Rivers' Aussehen und Benehmen. Er wirkte um zehn Jahre gealtert und hielt sich gebeugt wie unter einer schweren Last. Er schien überrascht, als Bolitho ihn zu einem Sessel winkte, ließ sich aber dankbar hineinsinken und blickte sich gierig in der Kajüte um.
Schließlich sagte er:»Ich habe alles, was ich weiß, über die Verschwörung niedergeschrieben, die zur Übernahme meiner…«Er verhedderte sich.»Zur Übernahme von San Felipe durch die Spanier führen sollte. Konteradmiral Burgas, der das Geschwader in La Guaira kommandiert, sollte die Insel regieren, bis das Besitzrecht Spaniens endgültig anerkannt war.»
«Wußten Sie, daß die spanische Mission als Tarnung für die Invasionsflotte diente?»
«Nein. Ich vertraute dem spanischen Oberbefehlshaber. Er versprach mir eine Ausweitung des Handels mit dem südamerikanischen Festland. Mir schien das alles nur vorteilhaft.»
Bolitho nahm die Aufzeichnungen entgegen und überflog sie nachdenklich.
«Das könnte für Ihre Verteidigung in London von Nutzen sein, obwohl.»
Rivers hob die Schultern. »Obwohl. Ich verstehe. «Dann sah er Bo-litho direkt an und fragte:»Wenn Sie zur Zeit meines Prozesses in England sind, würden Sie dann für mich aussagen?»
Bolitho konnte ihn nur anstarren.»Da verlangen Sie aber allerhand von mir. Nach dem Angriff auf mein Schiff und meine Männer.»
Aber Rivers ließ sich nicht beirren.»Sie sind Frontoffizier. Für mein Verhalten suche ich keine Entschuldigung, sondern Verständnis. Sie begriffen, was ich beabsichtigte: die Insel für England zu erhalten. Genau das, was durch Ihr Verdienst jetzt auch geschah.»
Als Bolitho nur schwieg, fuhr Rivers fort:»Schließlich — hätten die Spanier den Angriff noch vor Ihrem Eintreffen begonnen, wäre vielleicht meinen Abwehrmaßnahmen der Erfolg zu verdanken gewesen. Dann sähe mich alle Welt jetzt in ganz anderem Licht.»