»Das ist es auch für mich.« »Dann, Prost! Lassen Sie uns auf unsere Brüderschaft anstoßen.«
»Freuen Sie sich nicht zu früh. Mein Interesse ist nicht ästhetischer, sondern rein lukrativer Natur.«
»Das macht nichts. Sie sind mir sympathisch. Ich gehöre zu denjenigen, die davon überzeugt sind, daß es im Hinblick auf Bücher eine Moral im herkömmlichen Sinne nicht gibt.« Fargas stand auf der anderen Seite des Zimmers, trotzdem beugte er sich ein wenig zu Corso vor, als wolle er ihm ein Geheimnis anvertrauen. »Wissen Sie was? Bei Ihnen in Spanien erzählt man sich doch die Legende von dem mörderischen Buchhändler aus Barcelona - nun, ich wäre wie er in der Lage, für ein Buch zu töten.«
»Davon rate ich Ihnen ab. Mit einer solchen Bagatelle fängt es meistens an, und zum Schluß erzählt man Lügen.«
»Und verkauft womöglich seine eigenen Bücher.«
»Womöglich.«
Fargas schüttelte traurig den Kopf. Dann verharrte er eine Weile reglos, mit gerunzelter Stirn, und schien über etwas nachzugrübeln. Als er wieder zu sich kam, sah er Corso lange und eindringlich an.
»Und damit wären wir wieder bei der Sache, die mich gerade beschäftigt hat, als Sie an der Tür läuteten«, sagte er endlich. »Jedesmal, wenn ich dieses Problem angehe, fühle ich mich wie ein Pfarrer, der seinen Glauben verleugnet . Überrascht es Sie, daß ich das Wort Sakrileg benütze?«
»Keine Spur. Ich finde, daß es genau darum geht.«
Fargas rieb sich nervös die Hände und ließ den Blick durch das Zimmer irren, über die kahlen Wände und die Bücher auf dem Boden, bevor er ihn wieder auf Corso heftete. Sein fratzenhaftes Lächeln wirkte, als sei es ihm aufs Gesicht gemalt.
»Ja. Ein Sakrileg läßt sich einzig und allein aus dem Glauben heraus erklären. Nur ein Gläubiger ist in der Lage, ein Sakrileg zu begehen und im selben Augenblick, in dem er es begeht, das Schreckliche seiner Tat zu begreifen. Keiner würde Entsetzen empfinden, wenn er eine Religion entweiht, die ihm gleichgültig ist. Das wäre, als lästere er einen Gott, zu dem er keinerlei Bezug hat. Absurd.«
Corso zeigte sich einverstanden.
»Ich weiß, was Sie meinen. Das entspricht dem Du hast mich besiegt, Galiläer von Julian Apostata.«
»Dieses Zitat kenne ich nicht.«
»Gut möglich, daß es apokryph ist. Einer der Maristenbrüder, bei denen ich zur Schule gegangen bin, pflegte uns damit zu veranschaulichen, was passiert, wenn man vom rechten Weg abkommt: Man bleibt von Speeren durchbohrt auf dem Schlachtfeld liegen und spuckt Blut unter einem Himmel ohne Gott.«
Der Bibliophile nickte, als wäre ihm diese Problematik bestens vertraut. Sein krampfartig verzerrter Mund und der stiere Blick seiner Augen hatten beinahe etwas Unheimliches.
»So fühle ich mich jetzt«, sagte er. »Nachts, wenn ich keinen Schlaf finden kann, pflanze ich mich hier vor meinen Büchern auf, entschlossen, eine weitere Profanierung zu begehen.« Er war beim Sprechen so dicht an Corso herangetreten, daß dieser beinahe vor ihm zurückweichen mußte. »Mich an ihnen und an mir selbst zu versündigen . Ich wähle ein Buch aus und bereue es sofort wieder, ich nehme ein anderes in die Hand und stelle es nach ein paar Minuten an seinen Platz zurück. Eines opfern, damit die anderen zusammenbleiben können, einen Ast vom Stamm abbrechen, damit der Baum überlebt .« Er zeigte Corso seine Hand. »Tausendmal lieber würde ich mir einen dieser Finger abhacken.«
Seine Hand zitterte, während er sie vorstreckte. Corso schüttelte den Kopf: Er konnte zuhören - das gehörte zu seinem Beruf, er konnte sogar Verständnis aufbringen. Aber mitspielen, dazu war er nicht bereit. Das war nicht »sein« Krieg. Er war ein Landsknecht auf Bezahlung, wie Varo Borja gesagt hätte, und er war nur zu Besuch hier. Was Fargas brauchte, war ein Beichtvater oder Psychiater.
»Für den Finger eines Bibliophilen würde niemand auch nur einen Escudo herausrücken«, sagte er in scherzhaftem Ton.
Sein Witz verlor sich in der unendlichen Leere, die in den Augen seines Gegenübers herrschte. Fargas sah durch ihn hindurch, als wäre er aus Luft. In seinen geweiteten, entrückten Pupillen gab es nur Bücher.
»Welches also wähle ich aus?« fuhr Fargas fort. Corso hatte eine Zigarette aus der Manteltasche gefischt, die er ihm in diesem Moment anbot, aber der andere ignorierte seine Geste, geistesabwesend wie er war und ausschließlich auf seinen eigenen Diskurs fixiert. Außer den Wahnbildern, die sein gequältes Gewissen heraufbeschwor, existierte nichts für ihn.
»Nach langem Nachdenken habe ich zwei Kandidaten ausgesucht.« Er hob zwei Bücher vom Boden auf und legte sie auf den Tisch. »Sagen Sie mir, was Sie von ihnen halten.«
Corso beugte sich über die Bücher und öffnete eines von ihnen. Die Seite, die er aufgeschlagen hatte, war mit einem Holzschnitt geschmückt: drei Männer und eine Frau, die in einer Mine Arbeiteten. Es handelte sich um die zweite lateinische Ausgabe des De re metallica von Georgius Agricola, hergestellt von Frohen und Episcopius in Basel, und zwar nur fünf Jahre nach dem ersten Druck von 1530. Er gab ein zustimmendes Knurren von sich und zündete die Zigarette an.
»Sie sehen selbst, wie schwer es ist, eine Wahl zu treffen.« Fargas ließ den Bücherjäger keine Sekunde aus den Augen. Er beobachtete ihn unruhig, angespannt, während Corso mit äußerster Behutsamkeit in dem Buch blätterte. »Ich verkaufe jedesmal nur ein einziges Buch, aber nicht irgendeines. Das Opfer muß den anderen weitere sechs Monate Sicherheit gewähren. Das ist mein Tribut an den Minotaurus«, er faßte sich mit der Hand an die Schläfe, »wir alle haben einen hier, im Zentrum des Labyrinths . Unser Geist schafft ihn, und dann müssen wir uns seiner Schreckensherrschaft beugen.«
»Warum verkaufen Sie nicht mehrere weniger wertvolle Bücher auf einmal? Vielleicht könnten Sie damit die nötige Summe zusammenbekommen und die seltensten Stücke oder Ihre Lieblingsbücher verschonen.«
»Ein Exemplar offen verachten und ihm ein anderes vorziehen?« Den Bibliophilen schüttelte es. »Undenkbar. Sie alle besitzen dieselbe unsterbliche Seele und genießen für mich dasselbe Recht. Natürlich habe ich meine Vorlieben, das ist unvermeidlich . Aber das würde ich niemals zum Ausdruck bringen. Mit keiner Geste und keinem Wort würde ich ein Buch über seine vom Schicksal weniger begünstigten Artgenossen hinausheben. Im Gegenteil. Denken Sie daran, daß Gott selbst seinen eigenen Sohn zum Opfer bestimmt hat - um die Menschheit zu erlösen. Und Abraham . « Er schien auf das Deckengemälde anzuspielen, denn er hob den Blick und lächelte traurig ins Leere, ohne seinen Satz zu beenden.
Corso hatte das zweite Buch geöffnet, ein Folio mit italienischem Pergamenteinband aus dem 16. Jahrhundert. Es handelte sich um einen wunderschönen Vergil - die 1544 gedruckte venezianische Ausgabe von Giunta. Das holte den Bibliophilen wieder in die Wirklichkeit zurück.
»Herrlich, nicht?« Er trat einen Schritt vor, um ihm das Buch ungeduldig aus der Hand zu reißen. »Schauen Sie sich die Titelseite mit der geometrischen Bordüre an, die sie einrahmt. Einhundertdreizehn Holzschnitte, alle perfekt, bis auf die Seite 345, die rechts unten, kaum wahrnehmbar, eine kleine Restaurierung von alter Hand aufweist. Das ist zufällig der Holzschnitt, der mir am besten gefällt: Äneas in der Unterwelt, und neben ihm die Sibylle. Ist Ihnen je etwas Vergleichbares zu Gesicht gekommen? Beachten Sie die Flammen hinter der dreifachen Mauer, den Kessel, in dem die Verdammten schmoren . Und hier der Vogel, der die Eingeweide der Gemarterten verschlingt.« Corso glaubte das Blut in Fargas’ Schläfen und Handgelenken pulsieren zu sehen. Er sprach mit hohler Stimme, das Buch dicht vor den Augen, um besser lesen zu können. Sein Gesicht strahlte: »Moenia lata videt, triplici circundata muro, quae rapidus flammis ambit torrentibus amnis ...« Er hielt verzückt inne. »Der Holzschneider hatte eine mittelalterliche Vorstellung von Vergils Hades: großartig und grausam.«