Jameson starrte aus geweiteten Augen auf die Spitze meines Spazierstockes. Sein Adamsapfel hüpfte hektisch auf und ab.
»Ich verstehe nicht, was sie von mir wollen«, sagte er.
»Ich glaube, Sie verstehen recht gut«, antwortete ich kalt. »Und wenn nicht, werden Sie vielleicht verstehen, wenn die Behörden Ihnen die gleichen Fragen stellen. Zum Beispiel die Frage nach dem Verbleib eines gewissen McGillycaddy. Oder die, warum es fast ausschließlich Schiffe Ihrer Gesellschaft sind, die auf so sonderbare Weise verschwinden, Jameson.« Ich lächelte, zog meinen Stock zurück und maß ihn mit einem kalten Blick.
»Aber wie gesagt, Mister Jameson - das alles geht mich nichts an. Überlegen Sie sich, wie Sie Kapitän Bannermann rehabilitieren können, und ich bin bereit, die ganze Angelegenheit zu vergessen. Ich gebe Ihnen genau vierundzwanzig Stunden Zeit zum Nachdenken. Guten Tag, Mister Jameson.«
Damit wandte ich mich um, bedeutete Bannermann mit einer Kopfbewegung, mir zu folgen, und wandte mich zur Tür.
Sie wurde aufgerissen, noch bevor wir sie erreicht hatten, und die hünenhafte Gestalt von Jamesons »Portier« erschien wie eine lebende Barriere unter der Öffnung. Ich zweifelte keine Sekunde daran, daß er jedes Wort mit angehört hatte. »Geben Sie die Tür frei, Sir«, sagte ich steif.
Der Riese grinste kalt, baute sich breitbeinig vor mir auf und hob die Fäuste. Eine Sekunde später hockte er, nicht mehr ganz so breitbeinig, vor mir auf dem Boden, preßte die Hände auf eine Stelle zwei Handspannen unterhalb seines Magens und schnappte röchelnd nach Luft. Bannermann betrachtete stirnrunzelnd seinen Fuß. Der Wucht nach, mit der er zugetreten hatte, mußte er ihn sich halbwegs verstaucht haben.
Ich bedachte Bannermann mit einem tadelnden Blick, schüttele unmerklich den Kopf und wandte mich noch einmal an Jameson. »Vierundzwanzig Stunden, Mister Jameson«, sagte ich, »keine Sekunde länger. Denken Sie daran. Sie finden uns im Hotel Four Seasons.«
Er war sehr sicher, den Ruf gehört zu haben. Es war nicht an der Zeit, und es waren auch nicht die richtigen Umstände, aber die Stimme war unverkennbar gewesen, die dumpfe, unausgesprochene Drohung darin schlimmer als normal, das Drängen ungeduldiger.
Es war Nacht, als McGillycaddy Loch Firth erreichte. Der Mond stand wie eine angeknabberte Dreiviertelscheibe am Himmel, und die Schatten der Wolken lieferten sich ein stummes Rennen auf der silbernen Oberfläche des Sees.
McGillycaddy spürte den Hauch eisiger Kälte, der vom Wasser emporwehte wie ein Guß aus einer anderen, düsteren Welt.
Diese Kälte, das wußte er, war nichts Natürliches. Es war das Zeichen seiner Anwesenheit. Er war hier, unsichtbar, aber so deutlich zu spüren wie die Spannung vor einem Gewitter. McGillycaddy atmete tief und gezwungen ruhig ein, straffte die Schultern und ging weiter, bis seine Füße dicht vor der Wasserlinie waren. Jetzt fiel ihm auch der Geruch auf: ein strenges, fremdes Aroma wie nach Seetang und Salz, ein Geruch, der nicht hierher gehörte. Lautlos nickte der hochgewachsene Schotte. Ja, er war hier. Es gab keinen Zweifel.
Zeit verging. McGillycaddy wußte nicht, wie viel. Der Mond wanderte ein Stück weiter über den Himmel, und das lebende Bild der Wolken über ihm änderte sich unablässig, aber er wußte hinterher nicht zu sagen, ob es Minuten oder Stunden gewesen waren. Auch das war ein untrügliches Zeichen für seine Anwesenheit. Die Zeit schien immer ein bißchen anders zu laufen, wenn er da war.
Irgendwann, nach endlosen Ewigkeiten, begann sich das Wasser in der Mitte des Sees zu kräuseln. Es sah aus, als wäre ein unsichtbarer Stein in die eisigen Fluten geworfen worden; kleine, kreisförmige Wellen liefen über den silbernen Spiegel des Sees, verebbten wieder und wurden von neuen abgelöst, immer schneller und schneller und schneller. Schließlich schien das Wasser zu kochen. Blasiger Schaum brach sich sprudelnd seinen Weg an die Oberfläche, und dann stieg etwas Dunkles, Formloses aus dem See, fiel mit einem hörbaren Klatschen wieder zurück und schoß dicht unter der Wasseroberfläche auf das Ufer zu, dunkel und langgestreckt, einem riesigen Raubfisch gleich.
McGillycaddy unterdrückte die Angst, die aus seinem Inneren emporkriechen wollte. Er verachtete die Angst, obgleich er es liebte, Angst und Schrecken zu verbreiten. Es war nicht logisch, aber Götter scheren sich einen Dreck um Logik.
Der dunkelhaarige Mann trat ein paar Schritte vom Ufer zurück, verschränkte die Hände zu einer sonderbar betenden Haltung vor der Brust und senkte das Haupt. Wenige Yards vor ihm, einen halben Steinwurf vom Ufer entfernt, begann das Wasser zu schäumen, und etwas Großes, Dunkles wuchs in der Nacht empor.
»Herr«, murmelte McGillycaddy.
Das Wesen betrachtete ihn eine Weile stumm. McGillycaddy gab sich fast krampfhaft Mühe, es nicht anzuschauen, wie immer wenn er ihm gegenüberstand, und wie immer verlor er den Kampf. Nach einer Weile hob er den Kopf und starrte in die beinahe faustgroßen, in allen Farben des Regenbogens schimmernden Augen seines Gegenübers.
Es war wie immer, und doch ganz, ganz anders. Sein freier Wille zerbrach unter dem Blick der starren Fischaugen wie eine Nußschale unter dem Tritt eines Giganten, und alles in ihm war Furcht und Panik und Grauen, aber anders als sonst war er nicht nur gekommen, um sein Opfer zu holen.
»Du hast lange gebraucht.«
McGillycaddy fuhr zusammen wie unter einem Peitschenhieb. Seine Stimme war unangenehm, kalt und schneidend wie Glas und von einem metallischen, beinahe körperlich schmerzenden Schnarren begleitet. Der Wind drehte sich und trug einen flüchtigen Hauch seines Geruches mit sich, eines Geruches nach See und Tiefe und unbezähmbarer Wildheit. So ähnlich, dachte McGillycaddy schaudernd, mußte ein Haifisch rie chen.
»Ich bin gekommen, so schnell ich konnte«, verteidigte er sich. »Es wird immer schwerer, Herr. Die ... die Geschehnisse sind nicht unbemerkt geblieben. Es sind Soldaten an der Küste gesehen worden. Ein Kriegsschiff ist gekommen.«
»Ich weiß«, antwortete er kalt. »Es wurde versenkt.«
McGillycaddy erschrak. »Versenkt?« keuchte er. »Das hätte nicht geschehen dürfen. Sie werden andere Schiffe senden, und...«
»Ich habe dich nicht gerufen, um mit dir zu diskutieren«, unterbrach er ihn zornig, »sondern um dir meine Befehle mitzuteilen.«
McGillycaddy schluckte mühsam. Sein Blick tastete unsicher über die schlanke, von schuppiger grüner Haut überzogene Gestalt seines Gegenübers. Die dünnen Schwimmhäutchen, die seine Arme mit dem Körper verbanden, glitzerten im Licht des Mondes wie bizarre Fledermausflügel. »Ja, Herr«, flüsterte er demütig.
»Der Augenblick der Entscheidung naht heran«, fuhr er mit leicht erhobener Stimme fort. »Unsere Feinde sind auf uns aufmerksam geworden. Die Zeit des Versteckens und Verbergens ist vorüber. Du wirst in die große Stadt am Meer gehen und ihnen sagen, daß sie sich bereithalten sollen. Ich erwarte sie zum verabredeten Zeitpunkt am Strand.«
»Aber Herr«, entfuhr es McGillycaddy. »Die Vorbereitungen sind noch...«
»Schweig!« donnerte er. »Du hast gehört, was ich gesagt habe. Geh und richte meine Befehle aus.«
Damit verschwand er. Anders als sein Auftauchen geschah es vollkommen undramatisch. Die Nacht schien die schlanke, grünschimmernde Gestalt aufzusaugen, und plötzlich war der See wieder ein See und die Nacht nichts weiter als die Abwesenheit des Tages.
Und trotzdem hatte McGillycaddy das Gefühl, daß ein kleiner Teil in ihm gestorben war, als er sich umwandte und mit steifen Schritten zum Dorf zurückging.