Die Droschke war verschwunden, als wir das Gebäude verließen. Ich hatte dem Fahrer zwei Pfund und den Auftrag gegeben, auf uns zu warten, um uns zum Hotel zurückzufahren aber dem Mann schien wohl der Spatz in der Hand lieber zu sein als die Taube auf dem Dach; er hatte das Geld genommen und sich getrollt, und Bannermann und ich konnten sehen, wie wir zurückkamen. Ich schluckte einen Fluch herunter, sah mich suchend um und ging los, als Bannermann mit einer stummen Kopfbewegung nach rechts deutete.
Es war kühl, und die grauen, halbverfallenen Häuser, die die heruntergekommene Straße säumten, schienen die Kälte noch zu verstärken, als hätten sie den eisigen Seewind wie riesige steinerne Schwämme in sich aufgesaugt und gäben ihn nun ganz allmählich wieder frei.
Trotz der noch frühen Stunde war kaum ein Mensch auf der Straße zu sehen, und Bannermann und ich beschleunigten unwillkürlich unsere Schritte. Wir waren eine gute halbe Stunde mit der Droschke unterwegs gewesen - was bedeutete, daß wir mindestens die dreifache Zeit zurück zum Hotel brauchen würden, wenn es uns nicht gelang, ein Fuhrwerk aufzutreiben.
Bannermann sah sich immer wieder nervös um, und auch ich konnte mich eines gewissen Gefühles der Unruhe nicht erwehren; einer Unruhe, die durch nichts begründet war, aber mit jedem Moment an Intensität zunahm. Einen Moment lang versuchte ich mir einzureden, daß es schlichtweg an unserer Umgebung lag - die Gegend war nicht dazu angetan, einen Fremden sofort in unlöschbare Liebe zu Aberdeen entbrennen zu lassen. Wie fast alle Hafenviertel der Welt war sie eher schmutzig und heruntergekommen, und sie entbehrte auch ganz jenes abenteuerlichen Flairs, der zum Beispiel Städte wie Marseille oder Algier auszeichnet. Das einzige Flair, das sie hatte, war die Erwartung, hinter der nächsten Ecke eins über den Schädel zu bekommen und seiner Habseligkeiten beraubt zu werden.
Aber das war es nicht. Ich war in einer Gegend wie dieser aufgewachsen und trotz allem hier noch viel mehr zu Hause als in meinem piekfeinen Haus am Ashton Place, und auch Ban nermann war nicht gerade ein Feigling.
Nein - es war das Gefühl, belauert zu werden.
Wir sahen oder hörten niemanden, aber die Schatten schienen voller unsichtbarer Bewegung zu sein, die leeren Fensterhöhlen voller unsichtbarer Augen, und das Heulen des Seewindes erfüllt von lautlos flüsternden Stimmen. Es hatte begonnen, nachdem wir das Büro der Scotia verlassen hatten. Und es wurde mit jedem Moment stärker.
Schließlich faßte Bannermann das Gefühl in Worte: »Irgend etwas stimmt hier nicht, Craven.«
Ich blieb stehen, sah erst ihn und dann die lauernden Schatten beiderseits der Straße an und nickte schließlich. »Das Gefühl habe ich auch. Wir sollten...«
Ich sprach nicht weiter. Einer der Schatten hinter Bannermann hatte sich bewegt; nicht sehr stark, aber doch deutlich genug, daß ich sicher war, mich nicht getäuscht zu haben. Ein dunkles Augenpaar blitzte.
»Was ist los?« fragte Bannermann, dem mein Stocken natürlich auffiel.
»Nichts«, antwortete ich hastig. Metall schimmerte in der Schwärze der Gasse hinter dem Kapitän. Ein Messer? »Ich mußte nur an etwas denken, das Jameson gesagt hat.« Ich lächelte aufmunternd, ging einen Schritt auf ihn zu und hob meinen Stock, aber ganz bewußt in einer Art, als würde ich in Gedanken damit spielen.
»War das eigentlich die Wahrheit, was Sie Jameson gesagt haben?« fragte er. »Das mit den verschwundenen Schiffen?«
»Zum Teil«, sagte ich.
»Zum anderen auch nur eine Ahnung - aber ich schätze, ich bin der Wahrheit ziemlich nahe gekommen. Ich habe einiges herausgefunden, bevor wir aus London abgereist sind, wissen Sie? Hier, schauen Sie selbst.« Damit griff ich in die Rocktasche, zog den säuberlich zusammengefalteten Bericht hervor, den mir mein Mittelsmann kurz vor unserer Abfahrt hatte zukommen lassen, trat einen weiteren Schritt auf Bannermann zu und hielt ihm das Blatt hin.
Als er danach griff, warf ich mich vor.
Es war ein ziemlich plumpes Ablenkungsmanöver gewesen, aber es erfüllte seinen Zweck. Mit einem Zweiyardsatz warf ich mich in die finstere Gasse, sah einen Schatten vor mir und griff instinktiv zu. Meine Hände schrammten über reißendes Metall, ich fühlte einen kurzen Schmerz, dann klirrte das Messer zu Boden, eine halbe Sekunde später gefolgt von seinem Besitzer, der aus ungläubig aufgerissenen Augen abwechselnd auf seine leeren Hände und mich starrte.
Ich begriff eine Sekunde zu spät, daß ich einen Fehler begangen hatte. Mein Angriff hatte den Burschen so vollkommen überrascht, daß er nicht einmal auf die Idee kam, sich zur Wehr zu setzen oder mich gar seinerseits anzugreifen.
Seine sieben oder acht Kameraden, die hinter ihm im Schatten der Gasse gelauert hatten, schon.
Von einer Sekunde auf die andere sah ich mich von finsteren, zerlumpten Gestalten umringt. Sie waren mit Knüppeln, Messern oder anderen Mordwerkzeugen bewaffnet, einer schwang sogar einen altertümlichen Vorderlader, und der Lärm, der plötzlich hinter mir laut wurde, sagte mir deutlich, daß auch Bannermann nicht mehr allein auf der Straße stand.
Eine Falle! schoß es mir durch den Kopf. Diese ganze Straße war nichts als eine einzige verdammte Falle! Mir blieb keine Zeit, meinen Leichtsinn weiter zu verfluchen, denn das halbe Dutzend Schläger griff beinahe augenblicklich an.
Mit einem entsetzten Hüpfer brachte ich mich in Sicherheit, als einer der Kerle einen mit rostigen Nägeln verzierten Knüppel in meine Richtung schwang, tauchte unter einem ungeschickten Faustschlag eines anderen hindurch, packte seinen Arm und riß den Kerl wie einen lebenden Schild an mich heran.
Es war ein aussichtsloser Kampf. Die Enge der Gasse behinderte die Burschen, und ich bin alles andere als ein Schwächling. Aber einer gegen acht ist auch alles andere als ein faires Verhältnis. Binnen Sekunden prasselten Schläge und Püffe auf mich herunter und ließen mich zurücktaumeln. Etwas traf mich an der Schulter und ließ mich zusammenbrechen.
So hart der Schlag war, er rettete mir das Leben, denn plötzlich schien dicht hinter mir eine Kanone abgefeuert zu werden, und eine halbe Sekunde später schlug etwas eine Handbreit über mir in die Wand. Ein Hagelschauer von Staub und Steinsplittern überschüttete mich, und mit einem Male war die Gasse voller Schreie.
Hustend richtete ich mich auf, packte einen der Schatten und stieß ihn gegen die anderen. Zwei, drei Männer stürzten in einem Knäuel ineinander verstrickter Leiber zu Boden. Als sich der brodelnde Pulverdampf lichtete, bot sich mir ein schreckliches Bild. Der Mann, der das Gewehr gehabt hatte, hockte mit schmerzverzerrtem Gesicht auf dem Boden, schrie unentwegt und starrte auf seine geschwärzten Finger. Rechts und links von ihm krümmten sich drei seiner Kameraden und preßten die Hände auf die Wunden, wo sie Splitter der explodierten Waffe getroffen hatten, und ein anderer lag ein Stück hinter ihnen und regte sich gar nicht mehr. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, mit einer Waffe auf mich zu schießen, die wahrscheinlich noch aus den Beständen der Mayflower stammte und wohl schon damals alt gewesen sein mußte.
Trotzdem war es nichts als eine Verschnaufpause, die mir gegönnt war, denn mit Ausnahme des Bewußtlosen und des Mannes mit den angesengten Fingern, erhoben sich die anderen bereits wieder auf die Füße und kamen torkelnd, aber nichtsdestotrotz zu allem entschlossen auf mich zu.
Blitzschnell zog ich meinen Stockdegen aus seiner Umhüllung, sprang rücklings aus der Gasse und rannte dabei fast Bannermann über den Haufen, der sich mit Händen und Füßen gegen zwei finster aussehende Gestalten wehrte. Ich stieß einen zu Boden und zog dem zweiten mit dem Kristallknauf meines Degens den Scheitel gerade.
»Danke!« keuchte Bannermann. »Das war in letzter Sekunde. Ich fürchte, ich werde langsam alt.«