Jennifers zweites Erwachen war so qualvoll wie das erste; vielleicht schlimmer, ahnte sie doch, daß der Alptraum längst nicht zu Ende war. Es war wie beim erstenmal - ein Gefühl des Gleitens und Streicheins überall an ihrem Körper, Kälte, das Empfinden, schwerelos zu sein. Nur eines war anders. Sie empfand es jetzt als angenehm. Es dauerte einen Moment, bis Jennifer der Unterschied zu Bewußtsein kam. Beim erstenmal, als sie in der finsteren Höhle unter dem See erwacht war, waren all diese Empfindungen fremd und erschreckend gewesen. Jetzt waren sie vertraut, so wie die Berührung der Luft auf der Haut, das Atmen oder das Gefühl, sich in frisch gemähtes Gras zu legen. Behutsam öffnete Jennifer die Augen. Es war nicht dunkel wie beim erstenmal; trotzdem hatte sie Mühe zu sehen, denn es war ein Licht ganz anderer Art, als sie es jemals erlebt hatte. Es war viel milder als der Schein der Sonne, und es kam aus keiner bestimmten Quelle, sondern war einfach da, als leuchte die Luft - das Wasser! - um sie herum. Sie blinzelte, fuhr sich, einer Gewohnheit folgend, die jetzt sinnlos geworden war, mit dem Handrücken über die Augen, richtete sich auf und spürte, wie sie den Halt verlor und schwerelos in die Höhe und zur Seite zu treiben begann. Instinktiv griff sie haltsuchend mit den Händen um sich, erreichte aber damit nicht mehr, als sich nun noch zusätzlich in Drehung zu versetzen und wie ein lebender Kreisel zuerst gegen die Decke, dann gegen die Wand zu stoßen, ehe sie ganz langsam zu Boden sank.
Ein leises, sonderbar hallendes Lachen erklang. Jennifer fuhr hoch, verlor dadurch schon wieder den Halt und klammerte sich im letzten Augenblick an einem Stein fest.
Wieder ertönte das Lachen, und diesmal identifizierte sie seine Herkunft. Behutsam drehte sie den Kopf in die Richtung, aus der das Geräusch erschollen war, und blinzelte durch das sanft leuchtende Wasser.
Sie sah erst jetzt wirklich, wo sie war. Es war eine Höhle wie beim erstenmal, aber sie war größer, viel, viel größer. Die Decke, gewölbt wie die eines gotischen Domes, spannte sich gute fünf Yards über ihr, und zwei der vier Seitenwände waren so weit entfernt, daß sie in der grünen Unendlichkeit des Wassers verschwammen. Grün und grau verkrustete Steine bedeckten den Boden, und in einiger Entfernung erhob sich ein Umriß, der ihr irgendwie künstlicher Natur zu sein schien, ohne daß sie ihn erkannte.
Auf der anderen Seite, vielleicht zehn, vielleicht auch dreißig Schritte entfernt - es war sehr schwer, unter Wasser die richtige Entfernung abzuschätzen, wie sie überrascht feststellte -, gab es einen bogenförmigen, etwa mannshohen Durchgang, hinter dem das dunklere Wasser des Sees wogte. Davor, nur als flacher schwarzer Schatten zu erkennen, schwebte eine menschliche Gestalt.
Unwillkürlich hob sie die Hand, um ihr zuzuwinken, verlor durch die abrupte Bewegung wieder den Halt, prallte ziemlich unsanft gegen die Wand und sank ganz langsam wieder zu Boden.
»Du mußt vorsichtig sein«, sagte eine Stimme. Dieselbe Stimme, die vorher gelacht hatte, aber sie war jetzt deutlicher, lauter und sehr viel näher. Sie klang nicht sehr angenehm. Ihr Ton erinnerte Jennifer an das Knirschen von brechendem Metall.
»Es dauert eine Weile, bis man sich daran gewöhnt hat, weißt du?« fuhr die Stimme fort. »Aber wenn du es erst ein mal gelernt hast, wirst du sehen, wie frei du dich bewegen kannst.«
»Wer... wer sind Sie?« fragte Jennifer. Auch ihre Stimme klang fremd in ihren Ohren; dumpf und hallend und fast ohne hohe Töne. Die Stimme eines Menschen, der unter Wasser spricht, dachte sie schaudernd.
»Wer sind Sie und wieso... wie komme ich hierher? Wo bin ich?«
»Du wirst alles erfahren, wenn es an der Zeit ist«, antwortete der Fremde. Jennifer war jetzt sicher, daß es ein Mann war, obgleich sie ihn noch immer nur als schwarzen Schatten vor dem noch tieferen Schwarz des Sees erkennen konnte.
»Jetzt komm.«
Der Mann hob die Hand, und fast ohne ihr Zutun setzte sich Jennifer auf und begann ungeschickte Schwimmbewegungen zu machen. Dann geschah etwas Seltsames. Plötzlich, von einer Sekunde zur anderen, wurden ihre Bewegungen eleganter, die ungeschickten Stöße zu einem eleganten Gleiten und Fließen, als fände ihr Körper in einen Rhythmus, den er schon immer gekannt und nur für eine Weile vergessen hatte. Leicht und schnell wie ein Fisch glitt sie auf den Fremden zu.
Als sie näher kam, wurde aus dem flachen Schatten ein Körper, aus dem dunklen Wabern und Wogen vor dem Hintergrund des Wassers ein Gesicht.
Es war kein menschliches Gesicht, aber es war auch nicht abstoßend. Jennifer erschrak nicht. Alles, was sie fühlte, war eine gelinde Verwunderung. Und Neugier.
Der Mann war sehr groß. Seine Haut war rauh und von zahllosen winzigen Schuppen bedeckt wie die eines Fisches, und zwischen seinen Fingern und Zehen spannten sich dünne, halbdurchsichtige Schwimmhäutchen, genau wie zwischen den Armen und dem Leib. Wenn er mit ausgebreiteten Armen schwamm, dachte Jennifer mit einem Gefühl widerwilliger Bewunderung, mußte er aussehen wie ein gewaltiger, in allen Farben schimmernder Rochen.
Das Sonderbarste aber war sein Kopf. Sein Gesicht glich viel mehr dem eines Fisches als dem eines Menschen, und von seiner Stirn aus zog sich ein stacheliger, aber offensichtlich sehr weicher Kamm über Kopf und Nacken und verschwand auf seinem Rücken. Seine Augen waren so groß wie Kinderfäuste und schillerten in allen Farben des Regenbogens.
»Wer bist du?« fragte sie, noch immer ohne Angst. Alles, was sie empfand, war Bewunderung für dieses fremdartige, wunderschöne Wesen.
»Auch das wirst du später erfahren«, sagte der Fremde. Seine Stimme klang noch immer wie Metall, aber der unangenehme Unterton schien daraus verschwunden, und plötzlich begriff Jennifer, daß das Verziehen seiner dünnen Fischlippen nichts anderes als ein Lächeln bedeutete.
Sie erwiderte es, verhielt, das Gefühl der Schwerelosigkeit genießend, dicht vor dem Fremden im Wasser, und machte eine weit ausholende Geste, die die gesamte Höhle einschloß. »Das hier ist dein Reich?« fragte sie.
Der Fischmann nickte. »Ein Teil davon. Bald wird es auch dir gehören.«
Jennifer begriff nicht gleich. Der Fremde lächelte wieder sein eigentümliches Fischlächeln, kam näher und streckte die Hand aus. Erst als seine schlanken Finger Jennifers Brust berührten, wurde sie sich überhaupt der Tatsache bewußt, daß sie nackt war.
Noch einen Tag zuvor, in jenem anderen, ihr plötzlich fremd erscheinenden und unendlich weit zurückliegenden Leben, wäre sie vor Scham gestorben. Jetzt erschien es ihr ganz natürlich, mit nichts anderem als herrlich streichelndem Wasser bekleidet und seinen Blicken preisgegeben zu sein. Die Berührung seiner Finger war sanft und doch gleichzeitig fordernd, und sie spürte das Verlangen, das dahinter war.
Etwas in ihr erwiderte es. Es war nichts, was sie kannte, sondern die Frau, die tief in dem Mädchen, das sie bis zu diesem Moment gewesen war, gewartet hatte. Ihre Lippen begannen zu zittern, als sich seine Hand vor ihrer Brust löste und ganz sanft an ihrem Körper hinabglitt.
Dann zog er die Finger zurück, abrupt und mit einem raschen, bedauernden Kopf schütteln.
»Noch nicht«, sagte er. »Wir müssen Geduld haben.«
»Geduld?«
Der Mann mit dem Fischgesicht lächelte. »Du wirst meine Braut«, sagte er.
»Und die Mutter meines Kindes. Aber noch ist es nicht soweit. Komm.« Jennifer nickte, griff nach seiner ausgestreckten Hand und schwamm Seite an Seite mit ihm hinaus in die lockende Schwärze jenseits des Höhleneinganges.
Jemand weckte mich auf. Er tat es auf die direkteste und wohl auch erfolgversprechendste Weise, die er kannte; allerdings auch die brutalste: