Spears setzte seine Tasse ab und schmatzte hörbar. Er schien den schlechten Tee, den uns sein Adjutant gebracht hatte, mit Wein zu verwechseln. »Wenn ich das wüßte, wäre ich nicht hier«, sagte er. »Und außerdem ein Stück weiter. Die Sache ist nicht so leicht zu erklären, Craven. Eigentlich dürfte ich Ihnen kein Sterbenswörtchen verraten. Aber...«
»Aber?« fragte ich, als er nicht weitersprach.
Der Fregattenkapitän zögerte einen Moment. Schließlich stand er - ohne zu antworten - auf, zündete sich eine Zigarre an und trat ans Fenster. Wir befanden uns im zweiten Stock eines nach außen hin vollkommen normalen Mietshauses, nicht mehr als drei oder vier Straßenzüge vom Büro der Scotia entfernt. Wie gesagt - das Haus war nach außen hin ganz normal. In seinem Inneren schon nicht mehr ganz. Ich hatte nicht alle Räume gesehen, aber ich schätzte, daß sich zusammen mit Spears' Truppe an die fünfzig Marinesoldaten in dem Haus aufhalten mußten, und es schienen mir ausnahmslos ausgesuchte Leute zu sein. Leute von der Art, der man ansieht, daß sie zu kämpfen versteht. Möglicherweise täuschte ich mich auch - aber in diesem Moment war ich sicher, es mit allem anderem als normalen Marineinfanteristen zu tun zu haben.
Das einzige, was den Eindruck, mich inmitten einer Eliteeinheit zu befinden, störte, war Spears. Er schien mir ein wenig zu jung und unausgereift, um einen solchen Einsatz zu leiten.
»Sie haben... gewisse Erkundigungen eingezogen, bevor Sie London verlassen haben, Mister Craven«, sagte er plötzlich.
Ich sah auf. »Sie sind gut informiert«, gestand ich.
Spears lächelte. »Das ist mein Beruf«, antwortete er. »Ich frage mich nur, was der Ihre ist, Craven.« Er trat vom Fenster zurück, schnippte seine Zigarrenasche zielsicher einen Fingerbreit neben den Aschenbecher und klappte eine lederne Schreibmappe auf, die zwischen uns auf dem Tisch lag. Neugierig beugte ich mich vor.
Ich war nicht sehr überrascht, auf dem obersten Blatt in fetten Buchstaben meinen Namen zu lesen. Was mich überraschte, war der Umfang des Papierstapels, den er bedeckte.
Spears bemerkte meinen befremdeten Blick und lächelte. »Das hier kam heute morgen mit einem Kurier«, sagte er. »Es enthält eine Menge interessanter Dinge, glauben Sie mir. Was es nicht enthält, ist die Antwort auf die Frage, die mich im Moment am allermeisten interessiert.«
»Und die wäre?« fragte ich harmlos.
»Schlicht und einfach die, was Sie hier zu suchen haben«, antwortete Spears. Plötzlich war er ganz ernst. Er beugte sich vor, legte die Zigarre aus der Hand, stützte sich mit beiden Fäusten auf der Tischplatte ab und sah mich aus seinen durchdringenden blauen Augen an.
»Wenn Sie jetzt sagen, es wäre Zufall, lasse ich Sie von meinen Leuten ins Meer schmeißen«, sagte er. Und so, wie er es sagte, glaubte ich ihm. »Also?«
»Bannermann«, antwortete ich. »Ich bin wegen Bannermann hier. Er bat mich um Hilfe.«
»Hilfe?« schnappte Spears. »Wobei?«
»Zum Teufel, was soll das?« antwortete ich scharf. »Sie wissen so gut wie ich, wobei. Dieser saubere Jameson versucht irgend etwas zu vertuschen, und Bannermann ist der, den er dafür über die Klinge springen lassen will. Zufällig ist Bannermann aber auch ein Freund von mir.« Wütend stand ich auf, ging um den Tisch herum und baute mich drohend vor Spears auf. Wenigstens versuchte ich es. Aber bei einem Mann, der fast einen Kopf größer war als ich, fiel es mir schwer.
»Bannermann ist kein Freund von Ihnen, Craven«, sagte Spears ruhig. »Sie haben sich in Ihrem ganzen Leben nur genau einmal vorher gesehen, vor mehr als zwei Jahren. Aber lassen wir das - was wollen Sie hier?«
»Das gleiche könnte ich Sie fragen«, schnappte ich.
Spears seufzte. »Begreifen Sie denn nicht, Craven?« fragte er.
»Zum Teufel - ich habe hier auf dem Tisch«, er pochte mit den Fingerknöcheln auf den Papierstapel mit meinem Namen oben auf, »das dickste Bulletin, das ich jemals über einen einzelnen Mann gesehen habe, und es enthält ungefähr hundertmal mehr Fragen als Antworten. Sie sind ein recht geheimnisumwitterter Mann, Craven - vorsichtig ausgedrückt. Alles, was ich von Ihnen verlange, ist eine ehrliche Antwort auf die Frage, ob ich Ihnen vertrauen kann oder nicht.«
»Das ist eine, ziemlich blöde Frage«, entfuhr es mir. »Was soll ich darauf antworten - nein!«
Spears starrte mich an. Für einen Moment blitzte Zorn in seinem Blick auf, aber dann begannen seine Mundwinkel zu zucken, und plötzlich lachte er. »Entschuldigen Sie, Craven«, sagte er. »Es war wirklich eine dumme Frage. Aber es geht hier um viel. Vielleicht um die Sicherheit des Empires.«
Vielleicht um die Sicherheit der Welt, fügte ich in Gedanken hinzu. Aber das sprach ich vorsichtshalber nicht laut aus.
Spears seufzte, schüttelte abermals den Kopf und trat wieder ans Fenster. Schweigend sog er an seiner Zigarre, blickte auf die Straße hinunter und wippte dabei auf den Zehenspitzen. Nach einer Weile trat ich neben ihn. Das Zimmer lag so, daß der Blick über die Dächer des Hafenviertels bis aufs Meer hinausfiel. Auch das war mit Sicherheit kein Zufall.
»Ich bin seit mehr als sechs Wochen hier«, sagte Spears plötzlich. »Die ganze Zeit über ist nichts passiert, Craven. Und kaum tauchen Sie auf, wird ein Mann auf offener Straße entführt, und Jamesons Speichellecker schwärmen aus wie die Ameisen.«
Er schüttelte den Kopf, drückte seine Zigarre am Glas der Scheibe aus und sah mich durchdringend an.
»Was wissen Sie über Jameson und seine Bande?« fragte er.
»Nicht sehr viel«, gestand ich. Das war nicht ganz die Wahrheit, aber auch nicht wirklich gelogen. Außerdem hätte es bis zum nächsten Morgen gedauert, ihm zu erzählen, was ich zu ahnen glaubte; und warum.
»Sie haben Nachforschungen angestellt«, erinnerte er. »Ich habe in meinen Unterlagen eine Kopie des Berichtes, den Ihr Verbindungsmann Ihnen zugestellt hat, ehe Sie hierher gekommen sind. Warum helfen Sie mir nicht, kostbare Zeit zu sparen, und erzählen mir, was Sie sonst noch wissen?«
»Nicht sehr viel«, wiederholte ich. »Ich weiß nicht einmal, ob alles, was in diesem Bericht steht, auch der Wahrheit entspricht.«
»Beinahe«, sagte Spears. »Bis auf ein paar unwesentliche Details.« Er atmete hörbar ein, wandte sich wieder zum Fenster und deutete durch die beschlagene Scheibe nach Osten.
»Es begann vor ein paar Monaten«, sagte er.
»Was?«
»Die Schiffe«, sagte Spears. »Es sind Schiffe verschwunden, Craven. Zuerst nur wenige - ein Fischerboot hier, ein altersschwacher Kahn mit Sommerfrischlern da ... Nicht besonders viel, aber immerhin mehr als gewöhnlich. Vor einem Vierteljahr verschwand dann die Brigitta Daranda, ein Kohlefrachter, der für die Scotia fuhr. Es hieß, er wäre im Sturm gekentert, aber es gab im Umkreis von fünfhundert Seemeilen nicht einmal eine starke Brise. Danach sank die Cassiopeia, ein 10.000-Bruttoregistertonnen-Segler, auch unter der Flagge der Scotia. Schließlich das Schiff ihres Freundes Bannermann, die Poseidon. Und das war erst der Anfang.« Der letzte Satz hatte bitter geklungen, und als ich Spears ansah, sah ich, daß seine Lippen zu einem dünnen, blutleeren Strich zusammengepreßt waren.
»Das waren noch nicht alle?« fragte ich.
Spears schüttelte heftig den Kopf. »Nein. Es gab natürlich eine Untersuchung. Ganz gegen die öffentliche Meinung sitzen nämlich in den Ministerien in London nicht nur Vollidioten, wissen Sie? Ein paar von ihnen sind durchaus in der Lage, bis drei zu zählen.« Er lächelte flüchtig und fuhr fort. »Es ging weiter. Die Untersuchung verlief im Sande, aber die geheimnisvollen Havarien hörten nicht auf. Bis heute ist ein gutes Dutzend Schiffe dort draußen verschwunden.«
»Ein Dutzend!« Ich erschrak. »Ein Dutzend Schiffe?« wieder holte ich ungläubig.