»McGillycaddy?« unterbrach ich ihn. »Der Mann, von dem ich Ihnen erzählt habe, Craven«, antwortete Bannermann. »Der einzige Überlebende, außer mir. Mein Zahlmeister. Wir wurden über Bord geschleudert, aber ich konnte deutlich sehen, wie das Ungeheuer das Schiff in die Tiefe gerissen hat. Es... es ist nichts übrig geblieben, Craven, buchstäblich nichts. Nicht einmal Trümmer.«
»Und die Besatzung?« fragte ich.
Bannermanns Miene verdüsterte sich. »Tot«, sagte er. »Sie müssen ertrunken sein. Ertrunken oder von diesem Monstrum verschlungen.«
Er sprach nicht weiter, und auch ich schwieg eine ganze Weile. Bannermann war niemand, der mit dem Entsetzen Scherze trieb. Und ich konnte ihm ansehen, daß er nicht log. Nein - er glaubte an das, was er sagte. Was nicht hieß, daß es die Wahrheit war. »Was geschah weiter?« fragte ich schließlich.
»Wir wurden gerettet«, sagte Bannermann. »Ich weiß selbst nicht genau, wie, aber McGillycaddy und ich schafften es, dem Ungeheuer zu entgehen. Ein Fischerboot kam und holte uns raus. Ich bin dann zur Hafenverwaltung gegangen.«
»Aber niemand hat Ihnen geglaubt«, sagte ich.
Bannermann nickte. »Natürlich nicht«, sagte er. »Niemand hat dieses Ding gesehen oder jemals von einem solchen Wesen gehört. Ich hätte es selbst nicht geglaubt, wäre ich an ihrer Stelle gewesen.«
»Aber Sie hatten einen Zeugen«, erinnerte ich. »Diesen Macgullygally...«
»McGillicaddy«, half Bannermann aus. »Lachen Sie nicht - er heißt wirklich so. Er war meine ganze Hoffnung. Er hat das Ding genauso gesehen wie ich; sogar noch deutlicher. Aber er ist verschwunden. Ich habe nach ihm gesucht, aber niemand hat ihn gesehen, seit wir an Land gegangen sind. Wahrscheinlich ist er vor Angst halb verrückt geworden und hat sich irgendwo verkrochen.«
»Und was geschah weiter?«
»Nichts«, murmelte Bannermann. »Es wird eine offizielle Untersuchung geben, heißt es. Aber ich kann mir denken, wie sie ausgeht. Sie haben keinen Hehl daraus gemacht, daß sie mir nicht glauben. Seither laufe ich durch die Gegend und versuche, einen Job zu bekommen. Aber niemand gibt mir einen. Sie jagen mich davon, wenn sie nur meinen Namen hören, Craven. Sie behandeln mich wie einen Aussätzigen.«
»Und was wollen Sie jetzt von mir?« fragte ich sanft.
Bannermann starrte mich aus brennenden Augen an. »Ihre Hilfe, Craven«, sagte er. »Sie sind der einzige, der mir helfen kann. Sie... Sie wissen, daß es solche Dinge gibt. Sie haben Einfluß. Sie... Sie sind...«
»Ein Hexer?« unterbrach ich ihn scharf. »Sprechen Sie es ruhig aus. Was erwarten Sie von mir? Daß ich mit den Fingern schnippe und einen Zauberspruch sage, der alles wieder in Ordnung bringt?«
Meine Worte waren von unangemessener Schärfe und taten mir beinahe sofort wieder leid. Ich lächelte entschuldigend. »Tut mir leid, Kapitän«, fuhr ich fort. »Aber im Ernst: Was glauben Sie, sollte ich tun? Ich weiß, wie man das Wort Schiff schreibt, und damit hört meine Erfahrung mit der christlichen Seefahrt auch schon auf.«
»Sie sind der einzige, der mir helfen kann«, murmelte Bannermann. »Craven - ich beschwöre Sie! Ich bin erledigt, wenn es mir nicht gelingt, zu beweisen, daß dieses Ungeheuer existiert.«
»Und Sie glauben, ich könnte es?« Ich seufzte, schüttelte den Kopf und senkte für einen Moment den Blick. »Es tut mir leid, Bannermann«, fuhr ich fort. »Selbst, wenn ich wollte - ich kann London nicht verlassen. Nicht im Moment.«
»Ich brauche Ihre Hilfe, Craven«, sagte Bannermann. Seine Stimme klang nicht nur verzweifelt, sondern flehend. »Sie... Sie schulden es mir.«
Mit einem Ruck sah ich auf. Bannermanns Blick flackerte wie der eines Wahnsinnigen, aber er war trotzdem so fest, daß ich es nach einer Weile war, der das stumme Duell aufgab und wegsah.
Sie schulden es mir. Seine Worte schienen auf unheimliche Weise hinter meiner Stirn nachzuhallen.
O ja, ich schuldete es ihm. Ich schuldete ihm mehr, als ich ihm jemals geben konnte. Sein Leben hatte sich geändert, im gleichen Moment, in dem ich hineingetreten war.
Vielleicht hatte er recht. Ich hatte in den letzten Monaten immer nur genommen. Ich schuldete nicht nur Bannermann etwas, sondern beinahe jedem, mit dem ich in Berührung gekommen war, seit ich aus den Staaten nach England übergesiedelt war. Vielleicht war es an der Zeit, daß ich anfing, meine Schulden zurückzuzahlen.
Kälte umgab sie, eine Kälte, wie sie sie nie zuvor im Leben gespürt hatte, und gleichzeitig ein eigentümliches Gefühl des Schwebens und Gleitens. Irgend etwas Körperloses schien sie zu berühren, überall zugleich und doch nirgends, und als sie die Augen öffnete, war das einzige, was sie sah, eine fast stoffliche Dunkelheit.
Wieso lebte sie noch?
Sekundenlang überlegte Jennifer ernsthaft, ob das der Tod war, verwarf diesen Gedanken aber rasch wieder. Obwohl alles fremd und furchteinflößend in seiner Unverständlichkeit war, war es auf der anderen Seite doch wieder zu profan, zu lebendig, als daß es das Reich jenseits des Sterbens sein konnte.
Sie versuchte sich zu erinnern, aber die Bilder hinter ihrer Stirn wirbelten ziellos durcheinander und weigerten sich, eine sinnvolle Folge zu ergeben. Sie war über Bord gestürzt und hatte versucht zu schwimmen, und dann waren die Hände gekommen und hatten sie herabgezerrt, hinunter in das Schweigen und die Eiseskälte des Sees.
Aber wieso lebte sie? Schon die Kälte und der Druck, der auf dem Grund dieses meilentiefen Schachtes herrschen mußte, hätten sie töten müssen, wäre sie nicht vorher schon ertrunken.
Wieder wurde sie sich der Kälte und des Gefühles einer unsichtbaren, aber sehr kraftvollen Berührung bewußt, und plötzlich erinnerte sie sich auch wieder, woher sie diese Empfin dung kannte.
Schwimmen. Es war das Gefühl, in eiskaltem, unbewegtem Wasser zu sein.
Erschrocken hob sie die Hand ans Gesicht. Sie fühlte den Widerstand, als ihre Finger das Wasser teilten und ihre eiskalte, nasse Haut berührten, über ihre Wangen und ihr Kinn glitten, die Lippen ertasteten...
Ihr Herz schien mit einem schmerzhaften Schlag aus dem Takt zu geraten, als sie begriff, daß sie unter Wasser war, tief unten auf dem Grunde von Loch Firth, Hunderte und Aberhunderte von Fuß unter seiner eisigen glitzernden Oberfläche. Sie schwebte frei in einem grenzenlosen schwarzen Nichts, eingeschlossen von Wasser - Wasser, das ihren Mund füllte, das sie töten würde!
Jennifer unterdrückte im letzten Moment den Impuls, zu schreien. Ihre Gedanken überschlugen sich, Todesangst überschwemmte den winzigen Rest klaren Bewußtseins, der ihr geblieben war. Sie fuhr hoch, spürte, wie sie in der sanften Umarmung des Wassers zu schweben begann und stieß mit der Schulter gegen muschelverkrusteten Stein. Verzweifelt preßte sie die Kiefer aufeinander, hielt den Atem an, um bloß den winzigen Rest kostbarer Luft, der noch irgendwo in ihren Lungen sein mußte, nicht zu verschwenden, tastete im Dunkeln um sich und fühlte rauhen Fels - die Decke einer unterseeischen Höhle, in die sie hineingezerrt worden war!
Wie von Sinnen fuhr sie herum, drehte sich fünf-, sechsmal um ihre eigene Achse und machte ziellose Schwimmbewegungen, prallte gegen eine Wand, wurde zurückgetrieben und griff abermals mit den Händen in die Schwärze. Plötzlich war der Stein verschwunden, der Fels wich eisigem, leicht bewegtem Wasser, und nach einigen hastigen Schwimmzügen sah sie einen verschwommenen hellen Fleck vor sich. Licht! Das Licht der Sonne, das grünlich durch die Wassermassen über ihr drang!
Mit aller Macht kraulte sie los.
Das Mädchen dachte in diesem Moment nicht mehr logisch. Hätte es Zeit zum Überlegen gefunden, wäre ihm rasch klar geworden, daß es gar nicht mehr leben durfte. Seit ihrem Erwachen waren Minuten vergangen, Minuten, in denen sie längst hätte ertrinken müssen, und sie brauchte noch einmal endlose Minuten, um das Ende des unterseeischen Tunnels zu erreichen und sich mit einer kraftvollen Bewegung abzustoßen, dem grünlichen Licht und der Luft unendlich weit über ihr entgegen.