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»Pri«, murmelte ich erneut. Ein harter, schmerzhafter Kloß saß plötzlich in meiner Kehle. »Hast du... hast du sie gesehen?«

Shannon nickte.

»Sie lebt«, bestätigte Shannon. »Aber sie ist...« Er sprach nicht weiter, und mit einem Male - eigentlich zum allerersten Male, seit ich ihn kennengelernt hatte - konnte er meinem Blick nicht mehr standhalten und starrte beinahe betreten zu Boden. »Es tut mir leid, Robert«, sagte er. »Ich wollte nicht darüber reden. Es war ein Fehler, der dir nur weh getan hat. Verzeih.«

»Sie lebt?« beharrte ich. Ich fühlte mich wie in Trance. Meine Gefühle waren aufgewühlt, als wäre am Grunde meiner Seele ein Vulkan aufgebrochen. Meine Hände zitterten.

Shannon nickte, aber die Bewegung war so sacht, daß ich sie kaum sah. »Sie lebt, aber Necron hat sie in Schlaf versetzt, Robert. Einen magischen Schlaf, aus dem nur er sie wieder erwecken kann.« Plötzlich hob er den Kopf und sah mir mit neu gewonnener Festigkeit in die Augen. »Vergiß sie, Robert«, sagte er sanft. »Selbst wenn sie wieder erwachen sollte, wird sie nicht mehr...«

Er kam nicht dazu, den Satz zu Ende zu bringen. Mit einem Sprung war ich auf den Füßen und bei ihm, riß ihn an den Jackenaufschlägen in die Höhe und ballte die Hand unter seinem Gesicht.

»Sag so etwas nie wieder, Shannon!« schrie ich. »Nie, hörst du? Sag nie wieder, daß ich sie vergessen soll!«

Shannon blickte mich an, schüttelte traurig den Kopf und drückte meine Hände mit einer beinahe sanften Geste zur Seite. Meine Wut verrauchte, so schnell wie sie gekommen war, und mit einem Male fühlte ich mich nur noch elend. Mir war im wahrsten Sinne des Wortes zum Heulen zumute.

»Entschuldige, Shannon«, sagte ich. »Ich... habe die Beherrschung verloren. Ich wollte das nicht.«

»Wir haben beide Fehler gemacht«, sagte Shannon sanft. »Warum vergessen wir sie nicht auch beide.« Er schwieg einen Moment, lächelte traurig und fügte mit noch leiserer Stimme hinzu: »Bedeutet dir dieses Mädchen so viel? Nach all der Zeit?«

Ich antwortete nicht, denn ich konnte es nicht. Bei Gott - wie oft hatte ich mir das Hirn zermartert, um selbst eine Antwort auf diese Frage zu finden? Ich liebte sie, ja, mehr als alles andere auf der Welt, aber - war es wirklich Liebe? Ich hatte sie ja kaum gekannt. Die wenigen Tage, die ich zusammen mit ihr in London verbracht hatte, hatten ja nicht einmal ausgereicht, sie wirklich kennenzulernen, und die Jahre danach ...

»Ich weiß es nicht«, gestand ich, ohne Shannon anzublicken.

»Du hattest kaum Zeit, sie wirklich zu lieben«, sagte Shannon, fast als hätte er meine Gedanken gelesen. »Du hast zwei Jahre neben einer Kranken gelebt, Robert. Einem Mädchen, das nicht Herr ihrer selbst war. Vielleicht ist es nur Mitleid.«

Ich sah auf, atmete hörbar ein und blickte ihn fest an. »Hast du jemals geliebt, Shannon?« fragte ich.

Es dauerte lange, bis Shannon antwortete, fast als müsse er erst gründlich über meine Frage nachdenken. Dann schüttelte er den Kopf. »Du hast recht«, sagte er, »Man sollte nicht über etwas reden, was man niemals kennengelernt hat.« Plötzlich lächelte er und sprach mit veränderter Stimme weiter: »Und so wie die Dinge liegen, kommen wir im Moment ohnehin nicht zu einer Lösung. Ich verspreche dir, daß ich dir helfen werde, sie zu befreien. Wenn das alles hier vorüber ist.«

»Befreien? Ich weiß ja nicht einmal, wo sie ist. Und für dich wäre es Selbstmord, auch nur in Necrons Nähe zu kommen. Er wird nicht sehr erbaut davon sein, daß du ihm dieses Ding gestohlen hast.« Ich deutete auf die Tasche, in der er den magischen Kompaß trug. »Außerdem hast du ganz recht - im Augenblick gibt es Wichtigeres zu tun. Hast du schon einen Plan?« Shannon lachte befreit auf. »Ich dachte schon, du würdest mich nie fragen«, sagte er. »Hör zu,..«

Der große Platz inmitten des Gefangenenlagers wirkte wie ausgestorben. Die Türen der hufeisenförmig angelegten Baracken waren ausnahmslos geschlossen, die Läden vorgelegt, und auch das normalerweise niemals abreißende Hin und Her der Wachen auf den Wehrgängen jenseits des doppelten Stacheldrahtverhaues hatte aufgehört. Selbst in den warmen Hauch des Krakatau, der vom Gipfel des Vulkans herabtrieb und aus der Erde drang, hatte sich etwas wie Kälte gemischt.

Tergard fröstelte. Die Sonne stand hoch am Himmel, und es hätte unerträglich warm sein müssen. Aber wenn er die Augen schloß, dann glaubte er Schnee und Eis zu spüren.

Trotzdem war er in Schweiß gebadet. Er hatte die Hände unter den Stoff seines weißen Zeremonienmantels geschoben, damit Roosfeld und die anderen nicht sahen, wie stark seine Finger zitterten.

»Er kommt«, sagte Roosfeld plötzlich. Er sah aus, als wäre er mit knapper Not einem Fleischwolf entsprungen. Zu seinem verbundenen, verrenkten Arm trug er einen passenden Mullverband um die blauglänzende Stirn.

Tergard nickte, drehte sich mit bewußt langsamen Bewegungen herum und blickte auf die langgestreckte Baracke, die den Abschluß des freien Platzes bildete, der zwischen den anderen Gebäuden des Gefangenenlagers lag. Ihre Tür stand offen, und erst vor Minuten hatte Roosfeld auch die innere, aus Metall gefertigte Tür aufgeschlossen, so daß die rote Glut der Lava aus dem brennenden Gebäude leuchtete. Es sah aus, als brenne das Haus. Für einen Moment schloß Tergard die Augen und versuchte, das Chaos hinter seiner Stirn zu beruhigen. Er hatte Angst, und er gestand es sich selbst gegenüber ein. Ein Fehler, ein falsches Wort, ja, eine falsche Betonung, und er war verloren.

Aber der Preis, der ihm winkte, wenn er Erfolg hatte, war den Einsatz wert. Wenn er obsiegte, dachte er mit einem raschen, warmen Gefühl vorweggenommenen Triumphes, dann waren seine Tage auf diesem gottverlassenen Eiland am Ende der Welt gezählt. Dann würde er die Robe des Großmeisters tragen. Vielleicht mehr.

Unter der offenstehenden Tür erschien eine Gestalt, und Tergard rief sich innerlich zur Ordnung. Seinen Sieg konnte er feiern, wenn er ihn errungen hatte. Nicht eher.

»Ihr bleibt hier«, sagte er, als Roosfeld und zwei der anderen ihm folgen wollten. »Ich rede allein mit ihm.«

Roosfeld widersprach nicht, sondern wich beinahe hastig drei, vier Schritte zurück, sichtbar froh, ihm nicht folgen zu müssen. Tergard beschloß in Gedanken, sich bald nach einem neuen Mann umzusehen, der Roosfelds Stelle einnehmen konnte. Er war zweimal hintereinander geschlagen worden, und wie bei allen Männern, die im Grunde ihres Herzens feige waren, war eine einzige Niederlage für ihn schon zuviel. Wenn er das nächste Mal in eine gefährliche Situation kam, würde Roosfeld versagen, das wußte er.

Langsam näherte sich der Tempelritter der Baracke und der schlanken Gestalt, die aus der Tür getreten war, blieb in zwei Schritten Abstand stehen und deutete mit der linken Hand auf die zweite Gestalt, die hinter der ersten aufgetaucht war, einem Wesen wie aus Hörn und erstarrter Nacht, ohne Gesicht, ohne Leben, ohne Seele. Seine andere Hand lag verborgen unter dem Mantel auf dem Schwertgriff; eine Geste, die ihm sicherlich keinen Schutz gab gegen dieses Wesen, die ihn aber beruhigte.

»Schicke diese Kreatur fort«, sagte er kalt.

»Du hast hier nichts zu befehlen«, entgegnete der Mann, dem er gegenüberstand. Seine faustgroßen Fischaugen musterten Tergard kalt. »Du...«

»Dieses Wesen ist eine Kreatur der Hölle«, unterbrach ihn Tergard. »Schicke es fort, oder ich gehe wieder. Du wolltest mit mir sprechen, und ich bin hier, um mit dir zu reden. Aber nur mit dir.«

Dagon starrte ihn an und preßte wütend die Lippen aufeinander. Dann fuhr er mit einem Ruck herum, machte eine befehlende Geste und gab einen zischenden Laut von sich. Der Gesichtslose verschwand lautlos im Haus und löste sich in der lodernden Glut hinter seiner Tür auf.