Genauso lange wurden jianghu in Liedern besungen. In Versen verewigt, als gefürchtete Gesetzlose und verehrte Helden zugleich. Unsterblich gemacht in Legenden, die man sich am Feuer erzählte, und auf langen Wanderungen.
Und wir jianghu würden auch noch da sein, wenn die Herrschaft der Mandschu über China eines Tages ein Ende finden sollte, gleich ob durch die fremden Teufel oder eine andere Macht.
»jianghu ist kein Bündnis. Kein … kein … heimliches Heer. Nicht wegen Macht. Nicht wegen Reichtum. Nur wegen Ehre. Und um frei zu sein. Frei wie die Vögel am Himmel.«
Für uns war es Freiheit.
Für alle anderen war es luan. Unordnung. Chaos.
Das, was die Menschen am meisten fürchteten. Mehr noch als den Tod.
Den Behörden waren wir ein Dorn im Auge. Wir lockerten den Grund, auf dem das stolze Himmlische Reich ruhte, und höhlten ihn aus, Krümchen um Krümchen. Es war ihnen ein Leichtes, einen oder zwei oder gleich eine Handvoll von uns unter ihren Stiefelsohlen zu zerquetschen wie Insekten.
Aber immer blieben noch mehr als genug von uns übrig, die sich in den Weiten des Reiches zerstreuten und ihren eigenen Weg gingen.
»Manche sind hochgeboren. Viele einfache Leute und arm. Männer und manchmal auch Frauen. Die nicht mehr Familie und Sippe Gehorsam schulden. Keinem Grundherrn, keinem Mandarin und keinem Kaiser. Keinen Gesetzen von oben folgen. Nur unseren eigenen Gesetzen: Brich nie dein Wort. Bleib nie einen Gefallen schuldig. Steh immer für Brüder und Schwestern ein. Hilf immer den Schwachen.«
Nicht umsonst bestand wuxia, der Begriff für den heldenhaften Krieger, zur Hälfte aus dem Wort xia: der Kodex, der all diese Tugenden umfasste.
Fortunes Miene hatte sich bei meinen Worten aufgehellt; er murmelte etwas, das wie lrobenud klang.
»Was?«
»Robin Hood«, wiederholte er. »Das ist … war … Ah, nicht so wichtig. Eine alte Legende bei uns.«
Das Lächeln machte sein Gesicht ein bisschen ansehnlicher, unwillkürlich hoben sich auch meine Mundwinkel.
»So verbringst du also dein Leben damit … Leuten zu helfen – so wie mir in Chim- in Shenhu?«
Er sagte es, als wäre es etwas Besonderes, und das Staunen in seinen Augen machte mich verlegen. Doch auf eine Art, die mir keineswegs unangenehm war.
Trotzdem wollte ich nicht, dass er weiter in meinem Leben herumstocherte wie mit den Stäbchen in seiner Essensschale. Außerdem war das ba bao la jiang zu gut, um es leichtfertig kalt werden zu lassen.
»Schau. So.«
Ich drehte meine Hand mit den Stäbchen hin und her, damit er sich abschauen konnte, wie er sie richtig halten sollte. Ließ sie aneinanderklicken, um ihm zu zeigen, wie beweglich sie dabei bleiben mussten, bevor ich damit betont langsam ein Stück Gemüse aus der Schale aufnahm und zum Mund führte, und danach ein Klümpchen Reis.
Er versuchte, meine Fingerhaltung nachzuahmen. Das Stück Fleisch, das er auf seinen Stäbchen balancierte, plumpste zurück in die Schüssel; Spritzer der Bohnensoße verteilten sich über den Tisch und seine Jacke.
Neben uns flammte Gelächter auf.
Fortune nahm die andere Hand zur Hilfe, um seine Finger um die Stäbchen zu biegen und es erneut zu versuchen. Er hielt sie immer noch falsch. Ein Wunder, dass er bisher noch nicht verhungert war.
Ich legte meine Stäbchen beiseite und stellte die Schale ab, um über den Tisch zu langen und nach seiner Hand zu greifen.
Sie war noch kalt, taute nur langsam in der dampfigen Luft auf. Doch darunter pulsierte eine lebendige Wärme, so kräftig wie die Gelenke, die Sehnen und Fingerglieder.
Entschlossener als vielleicht nötig, rückte ich die Stäbchen zwischen seinen Fingern zurecht.
»So!«, wies ich ihn grob an und ließ seine Hand dann schnell wieder los.
Unter gesenkten Lidern sah ich, wie Fortune mir einen dankbaren Blick zuwarf. Zerbrechlich wirkten die Stäbchen in seinen Pranken, die doch so sanft mit den zartesten Pflanzen umgehen konnten. Trotzdem sah es aus, als schaufelte er mit einer Mistgabel sein Essen aus der Schale. Wenigstens schien er langsam den Bogen herauszubekommen.
»Ist es gut?«
Fortune nickte knapp; mit geblähten Nüstern schnappte er hörbar durch den geöffneten Mund nach Luft. Wie ein junger Drache, der dagegen ankämpft, sein erstes Feuer zu spucken.
»Würzig«, stellte ich schmunzelnd fest.
Seine Augenbrauen hoben sich, als wollte er sagen: halb so wild, und er leerte seine Schale Tee in einem Zug, schenkte sich gleich aus der Kanne nach. Fast hatte ich ein schlechtes Gewissen, dass ich für uns ausgerechnet ba bao la jiang ausgewählt hatte, das dazu noch so teuer war. Aber ich hatte schon lange nicht mehr etwas so Gutes zu essen bekommen.
Verstohlen beobachtete ich ihn, während wir schweigend weiteraßen. Ich fragte mich, ob es in seinem Land mehr solche Männer gab wie ihn. Oder nur solche wie die grobschlächtigen Barbaren, die sonst unsere Küstenstädte bevölkerten. Ich versuchte mir vorzustellen, wie wohl ihre Frauen sein mochten. Auch so groß? So laut? So derb und ungeschickt? Oder so in sich gekehrt wie Fortune, so einsiedlerisch und sich selbst genug?
In Gedanken konnte ich mir blasse Frauen mit gelben oder roten Haaren ausmalen, mit Augen wie aus Glas oder Wasser. Weiter kam ich dabei nicht, sie blieben leblose Puppen. Ohne Charakter und Temperament. Ohne Gesichtszüge. Ohne einen Körper, weil ich nicht wusste, worin ich ihn in meiner Vorstellung kleiden sollte. Ohne Stimmen.
Eine angenehme Schärfe im Mund und den Bauch gut gefüllt, stellte ich meine leere Schale ab, trank von meinem Tee.
Fortune wollte seine Stäbchen schon beiseitelegen, als sein Blick auf meine Essensschale fiel; daraufhin ließ er die Stäbchen genauso quer auf seiner leeren Schale ruhen. Er konnte nicht wissen, dass das bei uns das Ende der Mahlzeit bedeutete, aber dass er diese Kleinigkeit wahrgenommen hatte und es mir gleichtat, brachte mich hinter meiner Trinkschale zum Lächeln.
»Wenn du so viel rumgekommen bist … dann kennst du dich doch sicher gut in Shanghai aus?« Vielleicht hatte er den Anflug von Misstrauen bemerkt, in dem ich meine Brauen zusammenzog, denn schnell setzte er hinzu: »Kannst du mir vielleicht helfen?«
Fragend sah ich ihn an.
Er schob seinen Hut und die leeren Schalen zur Seite, wischte mit dem Ärmel die Tischplatte sauber und holte etwas aus seiner Jacke: Papierbögen, die er entrollte und vor mir ausbreitete.
mudan. Üppig und farbenprächtig wie in Anshins Garten damals.
Die Blume des Kaisers, hatte Anshin sie genannt.
Königin aller Blumen.
Die Blume, die Glück und Reichtum versprach.
Das Sinnbild für die Schönheit einer Frau.
Mit einem Mal war ich unsicher, ob Fortunes Fragen vorhin wirklich mir gegolten hatten oder einen bestimmten Zweck verfolgten; ich wusste nicht, was mir lieber gewesen wäre.
»Kannst du mir helfen, die zu finden? Irgendwo, wo ich sie kaufen kann?«
Hoffnungsvoll klang seine Stimme, bittend und fast verzweifelt. Dies alles spiegelte sich auch in seiner Miene wider; in seinen Augen lag die Energie des Bergbachs, der über eine Felskante hinabschäumt und dem Sog der Tiefe folgt.
Ich kannte diesen Blick.
Begehren sprach daraus. Pures, lustvolles Begehren des Körpers und der Seele.
Nur dass es bei ihm Blumen waren, denen dieses Begehren galt.
Yun …
Warum musste ich in diesem Moment ausgerechnet an Yun denken?
Ich hatte so lange nicht mehr an ihn gedacht.
Ich senkte die Lider und nippte an meinem Tee, der plötzlich salzig schmeckte wie Enttäuschung und alter Kummer.
19
Da waren sie. mudan.
Irgendwo im Gedärm der Stadt, wo übelriechende Rinnsale über das Pflaster liefen. Wo die Häuser sich so weit aufeinander zu neigten, dass nur dünne Streifen Licht in die Gassen fielen und sich der Wind schneidend hindurchpresste.