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AUS DEN NOTIZEN VON ROBERT FORTUNE

Die geladene Flinte im Arm, kniete Fortune auf dem Waldboden, der Stoff seiner Hose bereits vollgesogen mit der Nässe des letzten Regenschauers.

Sein Versuch, diesem Abenteuer zu entgehen, indem er die Waffe an das Kloster auslieh, war kläglich gescheitert. Zwar hatten die Augen von Abt Shanyuan geglänzt, als er ihm die Flinte entgegenhielt. Mit betrübter Miene hatte er dann jedoch erklärt, dass wohl keiner seiner Mönche den Mut hätte, eine solch gefährliche und ohrenbetäubend laute Waffe anzufassen. Keiner besäße Erfahrung im Umgang damit – und überhaupt sei es ihnen durch ihren Glauben leider, leider verboten, eine Waffe in die Hand zu nehmen.

Mittlerweile hatten sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt. Trotzdem glich alles, was er ausmachen konnte, flüchtigen Schatten und Wirbeln in einem Meer aus Tinte. Immer wieder zuckte er zusammen, wenn er aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm.

Meist ein langer Grashalm, von einem kaum wahrnehmbaren Luftzug ins Schwingen versetzt.

Ein Blatt, das von irgendwo herüberwehte und Nachtfalter. Eine Fledermaus, groß wie eine Möwe, in schwungvollem Wendemanöver.

Ein Mönch, der geduckt vorüberhastete, unmittelbar vor dem Lauf der Flinte, sie beinahe streifte.

»Ich werde aus Versehen noch einen der Mönche erschießen.«

Wang gab sein meckerndes Lachen von sich.

»Lieber Wildschwein. Bekommen wir drei nämlich auf Tisch, wenn Fu-Chung geschossen.«

Er verpasste Fortune einen kräftigen Hieb auf die Schulter. Fortune hörte ihn durch das Gras kriechen und wie er kurz darauf mit der Feuerkraft der Waffe prahlte, die sein Herr besaß.

Fast ein Dutzend Mönche hatte Fortune im Rücken, hörbar aufgeregt. Kreuz und quer schnatterten, gackerten und kicherten sie, bezogen Wang in ihre Faxen mit ein.

»Das Wildschwein ist hoffentlich taub«, knurrte er vor sich hin. »Sonst warten wir hier gänzlich umsonst.«

Hinter ihm gluckste Lian in sich hinein.

Ihn beschlich der Verdacht, dieser sogenannte Jagdausflug diente allein zur Unterhaltung der Mönche. Ein Nervenkitzel, der eine abenteuerliche Abwechslung im geregelten Alltag des Klosterlebens versprach.

Dabei war ihm der Radau der Mönche nicht unlieb. Sobald deren Stimmen, deren aufgekratztes Gelächter kurz aussetzte, drangen andere Geräusche an sein Ohr.

Emsiges Rascheln und Knistern wie von einer Invasion monströser Insekten. Ein trauriges Seufzen. Ein gequältes Knarzen. Ein sachtes, hohles tock tock, das Klopfen von Geisterfingern an einer Tür.

Nur Bambus, durch den der Wind strich, sagte er sich wieder und wieder. Dennoch rieselte ihm jedes Mal ein Schauder über den Rücken.

Dieser Wald war bei Nacht eine finstere Kreatur, die auf der Lauer lag. Die darauf wartete, ihre schwarzen Fangarme auszustrecken und ihn zu verschlingen.

Nervös rieb Fortune über seine Hosenbeine; seine Handflächen waren feucht, in seiner Magengegend rumorte es.

Er schulterte die Flinte, spähte probeweise über den doppelten Lauf.

»Es ist einfach zu dunkel«, murmelte er in einem Anflug von Verzweiflung.

»Sei froh, dass du eine Feuerwaffe hast«, raunte Lian, »und nicht mit einem Schwert auf Jagd gehen musst.«

Ihre Hand legte sich auf seine Schulter; er konnte die Wärme fühlen, die von ihrem Körper ausging.

»Ich weiß nicht, wie man mit Feuerwaffen schießt«, flüsterte sie, ihr Atem heiß auf seiner Ohrmuschel. »Aber ich weiß, wie man kämpft. Versuch dich an das zu erinnern, was ich dir beigebracht habe. Schaden kann es nicht. Und gräm dich nicht, wenn du das Tier nicht erlegst. Das ist nicht wichtig. Den Mönchen zu zeigen, dass du ihnen beistehst – darum geht es.«

Er nickte. Ihm wurde kühler, als Lian die Hand und damit auch ihre Wärme fortnahm. Die Dunkelheit machte ihn nahezu blind; ohne seinen Sehsinn fühlte er sich verloren.

Humboldts Auffassung, nach der das menschliche Auge nicht nur das Organ war, mit dem man sich die Welt betrachtete, sondern auch dasjenige, durch das man diese Welt interpretierte, verstand und definierte, bekam hier einen tieferen Sinn.

Fortune fragte sich, ob seine Weltanschauung eine andere wäre, verließe er sich nicht allein auf das, was er mit seinen Augen wahrnahm.

Mehrere Monate hatte Lian mit verbundenen Augen zugebracht, als sie das Kämpfen erlernte, das hatte sie ihm erzählt, in einer Morgenstunde auf der Anhöhe hinter Tinghae. Die Blindheit sollte ihre anderen Sinne schärfen, wenn sie Kämpfe mit den Fäusten ausfocht, mit dem Stock und sogar mit dem Schwert.

Er hatte nicht zu fragen gewagt, wo das gewesen war. Eine Kälte, eine unerbittliche Härte, die dabei in ihren Augen aufschien, sich auf die Art übertrug, wie ihr Stock gegen seinen schlug, hatte ihn davon abgehalten.

Die Wand aus Stimmen hinter ihm wurde brüchig; ein mahnender Zischlaut folgte dem anderen, bis alle verstummt waren, wie eingefroren in atemloser Spannung.

Dann hörte es auch Fortune.

Ein Schnauben, ein schnarchendes Grunzen. Ein Knacken, und dann bewegte sich etwas durch das Gras, massig und schwer. Ein feuchtes Schnüffeln, das atemlose Schnaufen eines erregten Tieres.

Fortune stellte ein Bein auf und stützte den Ellbogen auf den Oberschenkel; den Finger am Abzug, zielte er in die Finsternis.

Er versuchte, nicht daran zu denken, wie ein angeschossener Keiler in wilder Raserei auf ihn zugestürmt käme.

Mit dem Lauf der Flinte folgte er den Geräuschen. Der Ahnung einer Bewegung, unter der sich die Haut auf seinen Unterarmen kräuselte.

Ein Krachen sprengte durch seinen Schädel, ein wuchtiger Schlag traf seine Schulter; irgendwo vor ihm quiekte es grell, und der Geruch von Pulver und Qualm biss in seiner Nase.

Unter dem Nachhall des Schusses, der zwischen den Bäumen verklang, entfernte sich das Quieken, begleitet von einem galoppierenden Stampfen.

Fortune atmete auf, ebenso erleichtert wie enttäuscht.

Einen Augenblick lang waren die Mönche still, wie unter Schock.

Dann schäumte und sprudelte ihr Jubel wie eine Brandungswelle auf und brach über Fortune herein. Johlend schlugen sie ihm auf die Schultern, klopften seinen Rücken weich, feierten ihn.

Nicht wie einen Engländer, der zwar mit großem Getöse, aber mehr schlecht als recht ein Wildschwein verscheucht hatte, das in ein paar Tagen bestimmt wieder hier sein Unwesen treiben würde.

Sondern wie einen Helden, der soeben einen gefürchteten Drachen erlegt hatte.

36

Geradezu nackt kam ich mir vor, ohne mein Schwert.

Während ich durch das feuchte Gras ging, dachte ich voller Sehnsucht an Long Yuan, wie es in meiner Kammer auf der zusammengefalteten Decke lag. Neben meiner Jacke, unweit meiner Stiefel.

Mein Respekt vor der Lebensweise der Mönche hatte mich dazu bewogen, es dort zu lassen. Nicht nur, solange ich mich innerhalb des Klosterbaus aufhielt, sondern auch in seiner unmittelbaren Nähe. Auf dem Grund, auf dem die Mönche von Tiantung lebten, ihrem Tagwerk nachgingen und beteten.

Ich gestand es mir nicht gern ein, aber auf eine seltsame Art fühlte ich mich befreit dadurch. Wie ein Atemschöpfen war es, diesen einen Tag lang ohne Pflichten zu sein.

Fortune war in aller Frühe in die Wälder hinausgezogen, einen Imbiss aus der Klosterküche im Gepäck, wie mir die Mönche am Morgentisch erzählt hatten. Begleitet von seiner Feuerwaffe, die ihn in Tiantung zum Helden gemacht hatte.

Ein Tag war mir geschenkt worden, an dem ich nichts weiter tun musste, als zu sein. Nicht beständig auf dem Sprung, nicht fortwährend auf der Hut.

In diesem Kloster, in dem man mir mit nichts als Freundlichkeit begegnete. Dafür sorgte, dass ich gut schlief, reichlich zu essen hatte und dass es immer frisches Wasser in meiner Kammer gab. In dem ich frei durch alle Räume, alle Hallen streifen konnte, durch die Gärten und über die Wiesen, ohne Gefahr wittern zu müssen.

Die Hälfte dieses Tages hatte ich im Gebet verbracht.

Die bloßen Füße auf kühlem Stein, im Schatten eines geschwungenen Daches. Erst in langsamen und kraftvollen Bewegungen, fließend wie das Murmeln des Flusses neben dem Pavillon. Dann schwungvoller, schneller, mit einer Kraft wie Sturm und Blitz und Donner. Mein Atem, mein Herzschlag im festen, antreibenden Rhythmus von Trommelschlägen, im Kampf der leeren Hände.