Im Pavillon am Fluss waren sie bei mir, all die Kinder aus dem Kloster der Alten Haine und Jungen Bäume. Wie sie es zehn Jahre lang gewesen waren, vor mir, hinter mir, neben mir, in unserer Aufstellung im Klosterhof. Hundert Arme, die in perfekter Harmonie durch die Luft schwangen, hundert Beine, die in vollkommenem Einklang zum Himmel hinauf kickten. Ein Leib, ein Atem, eine Stimme, deren Laute die Kraft in uns vervielfachten.
Es war die Kraft der Gemeinschaft, die man mitnahm und in sich trug, wenn es in den Kampf ging.
Auch viele Jahre später noch, vielleicht für immer.
Ich spreizte die Zehen, grub sie tiefer zwischen die glatten Grashalme und schaute auf den See, zu den blauen Rücken der Berge dahinter.
Still war es in mir. Still und friedlich.
Wachsam blieb ich dennoch.
Hinter mir raschelte es. Das Gewicht bereits auf meinem Standbein, meine Armmuskeln angespannt, fuhr ich herum.
Eingefroren in seiner Bewegung starrte mich ein Mönch an, der gerade dabei gewesen war, auf Zehenspitzen durch das Gras zu schleichen, ein Bündel in seinen Armen.
»Ich bitte um Verzeihung, Frau Lian. Ich wollte Euch nicht in Eurer Andacht stören. Und noch viel weniger wollte ich Euch erschrecken.«
Er war nicht mehr jung. In losen Falten hing die Haut an seinem Gesicht und verwarf sich an seinem Hals zu tiefen Gräben.
Ich verneigte mich vor ihm. »Ich bitte Euch um Verzeihung, Sifu, dass ich so heftig reagiert habe. Das war nicht angemessen für diesen Ort.«
Unter den schweren Lidern blinzelten seine Augen kurzsichtig.
»Nicht Sifu, Frau Lian. Ich bin kein Meister. Nur ein einfacher Mönch. Hoshang Qin.«
»Seid gegrüßt, Hoshang Qin.”
Ein Leuchten glitt über sein Gesicht. »Ihr seid vom Tempel der Alten Haine und Jungen Bäume.«
Ich folgte seinem Blick.
Nicht nur meine Worte an ihn waren im Reflex erfolgt, sondern auch die Haltung meiner Hände: die Rechte zur Faust geballt, die Linke wie das Dach eines Hauses daran gelehnt.
Der Gruß eines Kämpfers, der in Frieden kam.
Der Gruß meines Klosters.
»Von welchem Berg kommt Ihr?«
Ich ließ meine Hände sinken. »Songshan.«
In seinen Augen glänzte es auf.
»Der erste aller Tempel der Alten Haine und Jungen Bäume. Von Bodhidharma gegründet. Zur Zeit der Kämpfe zwischen den nördlichen und südlichen Dynastien. Ich habe davon in den Schriften gelesen.«
»Ich habe das Kloster vor langer Zeit verlassen.«
»Aber Ihr kennt es.« Sein Bündel an sich gepresst, tat er ein paar zaghafte Schritte auf mich zu. »Viel Wundersames habe ich darüber gelesen. Davon gehört.«
Ich dachte an all die Geschichten, die es über unser Kloster gab. Von den wenigen Mönchen, die die Gemetzel der Mandschu überlebt hatten, an ihre Schüler überliefert und von diesen wieder an ihre eigenen Schüler. Bis unsere Meister sie an uns weitergaben. Wenn Hoshang Qin auch nur einen Bruchteil davon kannte, mussten sie ihm vorkommen wie aus einer fremden, magischen Welt.
Aus einer reichlich frevelhaften Welt noch dazu.
»Gewiss hat euch manches davon befremdet, Hoshang Qin. Ein Tempel, der Gold von Kaiser und Edelleuten erhielt. Mönche, die als Soldaten unter den Feldherrn der Ming in den Krieg zogen. Die sogar Fleisch aßen und Mädchen als ihresgleichen in ihr Kloster aufnahmen.«
Erstaunt blickte er mich an. »Wem stünde es zu, darüber ein Urteil zu fällen? Buddha selbst hat tausend Gesichter. Warum sollte es dann nicht auch tausend Wege geben, ihm zu folgen?«
Er tat einen weiteren Schritt auf mich zu.
»Stimmt es, dass die Mönche dort mit ihrer Geisteskraft alle Grenzen des menschlichen Leibes überwinden und fliegen können?«
Ich lächelte.
»Der Geist muss wirklich alle seine Grenzen sprengen und Flügel bekommen – aber letztlich ist es nichts anderes als Körperkraft. Nichts als Schnelligkeit und die richtige Technik, über Jahre hinweg geübt.«
»Und Mönche, die über das Wasser gehen?«
»Auf dünnen Planken, die lose auf dem Wasser schwimmen.«
Eine Übung, die kaum jemand über fünfzig Schritte hinaus meisterte, weil sie nicht nur hohe Geschwindigkeit, sondern fast übermenschliche Körperbeherrschung erforderte. Doch wer sich wieder und wieder daran versuchte, lernte, noch auf dem schmalsten Vorsprung zu balancieren, auf dem schlüpfrigsten Dachfirst.
Hoshang Qin wirkte enttäuscht. Sein Blick wanderte über den See, während er darüber nachsann.
Als er sich mir wieder zuwandte, blitzte es in seinen Augen auf, wie anerkennend.
»Aber dennoch …«
»Ja. Dennoch.«
Wir tauschten ein kleines Lächeln.
»Ich bewundere Euch, Frau Lian«, sagte er dann, »dass Ihr Euch entschieden habt, den Weg Buddhas allein zu gehen. Ohne den Halt einer Gemeinschaft. Ich hätte nie den Mut dazu gehabt. Ich wäre zu schwach dazu gewesen, allein.«
Ich blinzelte in die Sonne.
»Ich weiß nicht, ob ich noch immer den Weg Buddhas gehe«, murmelte ich.
Hoshang Qin legte den Kopf schief und zwinkerte mir zu.
»Nun … immerhin habt Ihr den Weg hierher gefunden, oder nicht?« Ich lächelte. Wie sehr ich diese Art von Gesprächen vermisst hatte in all den Jahren.
Ich wies auf das Gras zu unseren Füßen.
»Wollt Ihr Euch nicht setzen?«
Hoshang Qin lachte vergnügt, ein halb zahnloses Lachen.
»Wenn ich mich jetzt hier niederlasse, komme ich so schnell nicht wieder in die Höhe.« Er hob kurz sein Bündel an. »Außerdem wartet Hoshang Ping auf seine Wildkräuter. Euer Freund kann es kaum abwarten, von unserem Himmelseintopf zu kosten.«
Er musste Wang meinen, den ich den ganzen Tag noch nicht gesehen hatte. Ich konnte mir gut vorstellen, wie er in der Klosterküche herumlungerte, in alle Töpfe spähte, daraus naschte und vermutlich mit guten Ratschlägen aufwartete.
Hoshang Qin nickte zum See hinunter. »Ich glaube, auf Euch wartet auch jemand.«
Die hochgewachsene Gestalt Fortunes kauerte am Ufer und blickte uns entgegen.
Jetzt zog er rasch den Kopf ein, beugte sich über das Wasser, um aus der hohlen Hand zu trinken, bevor er sich ins Gras setzte und sich mit seinen Utensilien beschäftigte.
Leichtfüßig lief ich den Abhang hinunter, ging neben Fortune in die Hocke.
»Hattest du Erfolg?«
»Sehr.«
Er langte in seine Trommel, die er im Arm hielt, und brachte einen Zweig mit dunkelgrünen Blättern zum Vorschein, die glänzten wie lackiert. Üppig wie eine edle Rose war die Blüte, von der ein berauschender Duft ausging.
»Eine Gardenie«, erklärte Fortune, als er sie mir hinhielt. »Ich habe ihr meinen Namen gegeben. Gardenia fortunei.«
Von reinstem, makellosem Weiß war sie. Die Farbe, die ich so sehr hasste.
»Bei euch die Farbe von Tod und Trauer, ich weiß. Das habe ich nicht vergessen. Ich dachte nur …«
Er kam mit der Blüte etwas näher zu mir heran.
»Ich habe trotzdem eine mehr davon geschnitten und mitgebracht. Für dich.«
Eine schüchterne Bitte zeichnete sich auf Fortunes Gesicht ab. Eine vorsichtige Hoffnung.
Was sollte ich damit? Ich war nie die Sorte Mädchen gewesen, die sich eine Blume ins Haar steckte oder sich auf andere Art damit schmückte und parfümierte. Ein höchst unpraktisches Geschenk für jemanden wie mich, die ich mit nur dem Nötigsten durch die Lande zog. Eine solche Blume war zu nichts nütze. Unaufhaltsam welken würde sie und ihren Duft verlieren, schließlich verrotten.
Wie alles Leben auf dieser Welt. Alles war vergänglich.
Geduldig bot Fortune mir weiter die Blüte dar. Abwartend, geradezu unsicher.
Es schien ihm etwas zu bedeuten, sie mir zu geben.
Langsam und wie gegen einen Widerstand öffneten sich meine Finger und schlossen sich dann um den Zweig.