Seitdem sitzt sie hier.
Ein hoher, schriller Schrei dringt zu ihr durch, gefolgt von Weinen einerseits und lautstarker Rechtfertigung andererseits.
Es kostet sie Kraft, ihre Fäuste zu lösen. Jetzt erst bemerkt sie, dass sie Roberts Brief immer noch in der Hand hält.
Der Brief, den Mr Lindley mitgebracht und den sie in seiner Gegenwart nur überflogen hat. Zerknüllt ist er inzwischen, so sehr hatten sich ihre Finger verkrampft.
Sie lässt ihn fallen, geradezu achtlos. Vielleicht auch in einem Aufflackern von Zorn, einem Aufbegehren.
Jetzt ist nicht die Zeit, ihn zu lesen.
Sie stemmt sich aus dem Sessel hoch.
Jetzt ist keine Zeit, sich von dieser Last auf ihren Schultern lähmen zu lassen; erst muss sie diesen Streit schlichten, mindestens eines der Kinder trösten. Sich um das Mittagessen kümmern und danach um den Garten.
Später, nach dem Abendessen, wenn die Kinder schlafen – dann kann sie weinen.
Vielleicht wird sie auch tapfer sein und die Tränen bezwingen. Ihre Enttäuschung, in der Äderchen voller Zorn pulsieren, einfach in sich einschließen und warten, bis sie sich verkapselt hat.
Das wird sich zeigen.
Viel später fällt ihr Roberts Brief wieder ein, doch sie kann ihn nicht mehr finden.
John hat ihn entdeckt, auf einem seiner Streifzüge durch die Höhlenwelt unter Tischen, Stühlen, Schränken.
Er liebt Papier. Jede Art von Papier.
Während seine Mutter in der Küche steht und Gemüse schnippelt, seine Schwester ihm nach dem Streit heute lieber aus dem Weg geht, zerrt er den Papierball auseinander.
Mit Buntstiften versucht er, den schwarzen Linien, Punkten und Schleifen das Leben von Rittern und Pferden einzuhauchen, von Zauberern und Hexen. Es gelingt ihm nicht, auf dem Papier die Bilder erscheinen zu lassen, die er im Kopf hat, und er verliert die Lust daran, feuert das Papier unter die Kommode.
Nach dem Essen fällt es ihm wieder ein und er nimmt es mit in den Garten. In Fetzen verfüttert er es an die Schnecken unter dem Holunder; er mag das Kitzeln ihrer Raspelzungen auf seinen Fingerspitzen.
Als der Himmel dunkel wird und es donnert, ruft ihn seine Mutter herein.
Der Wind und der kräftige Regen, der bis zum nächsten Tag anhält, spülen die restlichen Papierschnipsel mit sich fort, in die reiche Erde von Chiswick hinein.
43
Ningbo, 12. August 1844
In den letzten Tagen damit beschäftigt, eine neue Bleibe zu suchen, um Geld zu sparen.
Ein Häuschen ist es geworden, eine gute Meile außerhalb der Stadt, fast schon auf dem Feld. Nicht viel mehr als ein Schuppen, dafür kostet es auch praktisch nichts und hat sogar einen eigenen Brunnen.
Reis, Gemüse und Früchte können wir von einem Bauern in der Nähe bekommen, ebenfalls sehr günstig.
Auch wenn keiner von uns so recht weiß, wie man auf der offenen Feuerstelle etwas Schmackhaftes daraus zubereitet.
AUS DEN NOTIZEN VON ROBERT FORTUNE
Stille Tage waren es, in diesem Häuschen vor den Toren der Stadt. Fortune war zufrieden damit, über die Felder mit Reis und Getreide zu wandern und den Bauern bei ihrer Arbeit zuzusehen. Zufrieden damit, mit Blick auf die Berge Wiesenblumen zu sammeln und im Haus zu trocknen. Ohne sie zu klassifizieren, ohne in Listen einzutragen; dafür würde später noch ausreichend Zeit sein.
Lieber genoss er die Fülle des späten Sommers. Die reichen Früchte, die aus den ätherischen Blütenwolken des Frühlings gereift waren.
Die frische, leicht bittere Pomelo und safttriefende Orangen. Große und kleine, runde und ovale Pflaumen, gelb, rot, violett und purpurrot, eine davon mit einer Haut in der Färbung von Aprikosen.
Pfirsiche mit weißem, zartgrünem, sattgelbem oder rötlichem Fleisch, mal süß, mal säuerlich, und die kleinen, flachen Pfirsiche.
Die glänzendroten Beeren der yangmei, die ihn an kompakte, vollkommen runde Himbeeren erinnerten und deren Geschmack zwischen intensiver Süße und kräftiger Säure an diesen heißen Tagen erfrischte.
Zum ersten Mal beobachtete er nicht nur die Früchte dieses Landes, beschrieb sie in seinem Notizbuch und ordnete sie in das botanische System ein.
Er kostete sie.
Kostete eine Müßigkeit, die ihm neu war. Mit jedem Bissen, den er mit den Zähnen aus dem Fruchtfleisch riss, die Sonne im Gesicht und auf den bloßen Armen, Finger und Kinn klebrig vom Saft.
Tage waren es, in denen er sich der Erde und ihrer Fruchtbarkeit ganz nahe fühlte.
Die Tür des Häuschens flog auf, und in ungewohntem Schwung stürmte Wang herein.
»Wang großartig! Wang hat Lösung!«
Zwischen die Rüben und Kohlblätter auf dem Tisch, aus denen Fortune und Lian eine Mahlzeit zusammenzuwürfeln versuchten, warf er ein Bündel Kleider und einen langen Strang dunklen Haares. Wie Pferdehaar sah es aus.
Fortune beugte sich vor, legte die Rübe beiseite, an der er herumgeschabt hatte, und strich über die braunen Strähnen. Es fühlte sich auch an wie Pferdehaar.
»Ein Pferdeschweif? Wofür?«
»Für Weg nach Anhui – für verkleiden Fu-Chung! Rasieren Kopf. Bis so viel. Hier.«
Wangs Zeigefinger kreiste über das Käppchen aus schwarzem Haar auf seinem Hinterkopf, das sich in seinem langen Flechtzopf bündelte.
»Kriegt Fu-Chung dann Zopf aus Pferdehaar. Machen Chinesen aus Fu-Chung!«
Fortune gab ein dürres Auflachen von sich.
»Das kann nicht dein Ernst sein! Damit kommen wir nie durch. Ich werde trotzdem aussehen wie ein fremder Barbar. Vielleicht nicht aus der Ferne, aber von Nahem auf jeden Fall.«
»In Anhui nein!«, verteidigte Wang störrisch seinen Einfall. »Menschen in Anhui nicht nur nie fremden Barbar gesehen. Menschen in Anhui auch noch nie Männer aus Steppe oder Wüste gesehen oder von sonstwo weit weg!«
Fortune blickte hilfesuchend zu Lian, deren Augen sich unter angespannten Brauen auf ihn geheftet hatten. Ein Blick, der ihm unter die Haut kroch. Als wollte sie so viel seines Englischseins abschälen wie möglich, um zu sehen, was darunter übrig blieb.
Ihre Züge öffneten sich, wie in Erstaunen.
»Es kann gutgehen«, murmelte sie dann.
»Ich wüsste nicht, wie. Ich sehe kein bisschen chinesisch aus.«
Lian senkte den Blick auf die Rübe in ihrer Hand und bearbeitete sie weiter mit dem Messer.
»China ist groß. Mehr, als einer von uns je sehen wird. Mit vielen Sprachen, vielen Völkern. Ganz verschiedenen Völkern. Chinesen sehen nicht alle gleich aus.«
Wie die Klinge ihres Messers schnitten ihre letzten Worte durch die Luft.
Auch Fortunes Stimme bekam einen schärferen Schliff.
»Ich habe noch nie einen Chinesen mit blauen Augen gesehen.«
Lian zuckte mit den Schultern, während sie die Rübe in ihrer Hand zerteilte und die Stücke in den schweren Eisentopf auf dem Boden warf.
»Keiner von uns dreien hat je einen Tempel für Allah gesehen. Und trotzdem wird er verehrt, an den Rändern des Reiches. Nur wenige waren in ihrem Leben an der Großen Mauer oder wissen, was dahinter ist. Händler, die viel gereist sind, berichten von Leuten mit Augen wie Moos oder wie helle Kiesel. Weit, weit entfernt von hier, aber immer noch China. Warum nicht blau?«
Fortune war nicht in der Lage, sich vorzustellen, wie er aus seiner schottischen Haut schlüpfte und eine neue überstreifte.
Unheimlich schien ihm dieser Gedanke. Als würde er einen Teil von sich selbst aufgeben und sich im Austausch dafür etwas Fremdes aufpfropfen. Sich zu einer Chimäre machen, einem Mischwesen, das etwas Monströses hatte.
In seiner Magengegend kribbelte es, als ob er sich noch einmal auf der Jagd nach einem Wildschwein befand, halb Unbehagen, halb Abenteuerlust.