Er fragte sich, ob ein fremder Barbar, der sich als Chinese ausgab, eine höhere Strafe zu erwarten hatte, wenn er die Grenze von dreißig Meilen überschritt. Die Vorstellung, ein anderer zu sein, als er war, umgarnte und lockte ihn dennoch. Jemand, der mutiger war als er. Verwegen. Ein Draufgänger, ein Abenteurer, der das Schicksal herausforderte.
Er gab nach. »Dann wagen wir’s.«
Wang strahlte. »Hier. An alles gedacht. Wo … Vorhin noch …«
Er nestelte an seinem Gewand herum. Eine Handvoll Kupfermünzen rieselte heraus, klimperte über den Tisch, fiel zu Boden.
»Das ist alles, was du wieder mitgebracht hast? Mehr ist nicht übrig?«
Wang zog ein betrübtes Gesicht. »Ja. Leider. Pferdemann hart gefeilscht. Wollte nicht geben Schwanz von Pferd. Hat Wang aber dafür auch schönsten bekommen. Macht schönen Zopf für Fu-Chung. Ah. Hier.«
Er holte eine Nadel und einen Strang Zwirn hervor.
»Näht Lian Zopf an. Damit hält. Und dann gleich auf heiliger Insel schauen, ob Leute glauben Fu-Chung als Chinesenmann.”
Lian, die eine frische Rübe zur Hand genommen hatte, starrte ihn finster an.
»Warum ich?«
Wang klaubte die Kupfermünzen vom Boden auf und strich die vom Tisch ein, bevor seine Finger in einer gezierten Geste durch die Luft flatterten und er sich der Tür zuwandte.
»Lian macht besser. Nadel gehört in Hände von Frau. Wang geht Huhn kaufen. Für feiern, heute.«
Die Rübe aus Lians Hand traf ihn im Genick.
Ein Tuch über den Hemdschultern, saß Fortune breitbeinig auf einem Hocker.
Das Kratzen der Messerklinge, die Büschel für Büschel seine Haare abschabte, ließ feine Schauer über seinen Rücken hinablaufen.
Schauer, die sich in ihrem Lauf verästelten und ausbreiteten, sobald Lians Finger über seine Kopfhaut strichen, eine Strähne nach der anderen ergriffen. Erstaunlich zartfühlend für jemanden, der den Kampf mit dem Schwert gewohnt war. Fast zaghaft.
»Danke, dass du das für mich tust.«
Lian hielt inne.
»Lian?«
Es ziepte, als Lian das nächste Haarbüschel packte und abschnitt, bevor ihre Hände wieder behutsamer mit ihm umgingen.
Kühl wurde es an seinem Kopf, nach und nach. Dann feucht; einzelne Tropfen von Wasser und Seifenlauge rannen über seine Schläfen. Lians Hand legte sich warm auf seine Stirn, während die andere die Klinge auf der Haut aufsetzte, kalt und mit bedrohlicher Schärfe. Heiß jagte es durch ihn hindurch, wie im Reflex wollte er den Kopf zurückreißen und fliehen.
Er blieb sitzen, still und bewegungslos.
Partie um Partie der verbliebenen stoppelkurzen Haare rasierte das Messer ab, während Lians flache Hand über seinen Schädel wanderte. Er schloss die Lider, als die Schauer sich weit über seinen Rücken hinaus ausdehnten, in die Arme, die Beine zogen.
Leicht fühlte er sich, beinahe schwerelos.
44
Ich war es nicht gewohnt, jemandem so nahe zu sein. Jemandes Haare und Haut unter meinen Händen zu haben.
Schon gar nicht die Fortunes. Des Engländers von der anderen Seite der Welt.
Ich verfluchte Wang, dass er mir diese Arbeit aufgebürdet hatte.
Dickes, starkes Haar hatte Fortune. Viel davon und recht lang, wie das Haar einer Ziege im Winter; er war wohl einige Zeit nicht beim Barbier gewesen. Schade war es darum, dachte ich, während es Strähne um Strähne unter der Messerklinge fiel, in wolligen Bündeln herabsegelte.
Ich erinnerte mich noch gut daran, wie es war, als mein Kinderzopf fiel, im Kloster der Alten Haine und Jungen Bäume, unter den Händen eines Mönchs. Zum Weinen war mir zumute gewesen, aber ich hatte tapfer alle Tränen hinuntergeschluckt. Obwohl ich noch so klein gewesen war, hatte ich gespürt, dass das Rasieren des Kopfes etwas Besonderes war. Der Preis, den ich dafür zu zahlen hatte, dass ich ab jetzt in Sicherheit war. Für das neue Leben, das mir im Kloster geschenkt wurde.
Manchmal fehlte mir dieses Gefühl der Leichtigkeit, der Frische am Kopf, besonders in den Sommern. Und doch war der lange Frauenzopf, der in diesen zehn Jahren neu gewachsen war, das Zeichen meiner zweiten Wiedergeburt.
Kaum merklich zuckte Fortune zusammen, als ich die Klinge auf seiner seifennassen Haut ansetzte, um ihn bis zu der neuen Haarlinie hinter den Ohren kahlzuscheren. Es war beinahe eine Erleichterung, dass er mir nicht vollkommen traute. Umso schlechter fühlte ich mich, als sich gleich darauf seine Muskeln lockerten. Er sich gänzlich in meine Hände fallen ließ.
So schlecht, wie ich mich fühlte, wenn er abends über unserem provisorischen Eintopf mit glänzenden Augen seine Hoffnungen äußerte, wie die Ankunft seiner Pflanzen in England aufgenommen würde. Besonders die der Teesetzlinge.
Es war ein merkwürdiges Gefühl, seine Haut unter meinen Händen zu haben; ich merkte, wie mein Herz dabei klopfte. Als würde ich ihn mit jeder Partie, die ich abrasierte, entkleiden, nach und nach. Auf eine Weise, die nicht intimer hätte sein können, hätte ich ihm sein Hemd und seine Hose ausgezogen.
Ich atmete tief durch und spülte das Messer kurz in der Waschschüssel ab.
Die Klinge glitt weiter über seinen Schädel, hinter die Ohren und in den Nacken hinunter, und ich musste mich bücken.
Viele Männer hatten einen hässlichen Nacken. Plump und mit dicken Hautfalten, wie bei einem Ochsen. Wang zum Beispiel.
Fortunes Nacken war kräftig und doch schlank. Mein Gesicht war keine Handbreit davon entfernt, und ich wollte meinen Mund in diesen Nacken drücken. Den Duft seiner Haut atmen.
Ich hielt inne, eine plötzliche Unsicherheit in den Fingern.
»Ist nicht schlimm, wenn du mich aus Versehen schneidest.«
»Ich schneide niemanden aus Versehen«, gab ich barsch zurück. »Wenn, dann mit voller Absicht.«
Ich säuberte die Klinge und spülte seine Kopfhaut mit einer Handvoll Wasser nach der anderen ab, rieb ihn mit dem Tuch um seine Schultern trocken.
Das Pferdehaar, gewaschen und getrocknet, hatte ich geteilt. Es war zu viel für einen Mann, vielleicht würde er die andere Hälfte später noch brauchen, sollte er den Zopf einmal verlieren.
Ich verflocht die Enden, die ich teils mit Zwirn umwickelt hatte, mit seinen eigenen Haaren und vernähte Männerhaar mit Pferdeschweif, so gut ich konnte.
Meine Finger glitten zwischen die langen Strähnen, begannen sie zu flechten. Ein schöner, dicker Zopf war es, um den ihn viele Mädchen beneidet hätten.
Den bestimmt viele Frauen anziehend fanden.
Meine Hände erstarrten in der Bewegung.
Fortune, der glaubte, ich sei fertig, wollte aufstehen.
»Noch nicht«, fuhr ich ihn an und hielt ihn an der Schulter zurück.
Sein Hemd war feucht. Ich konnte den harten Muskelstrang der Schulter unter meiner Hand fühlen und eine Ahnung von Haut, die unter meiner Hand glühte. Wie mein Gesicht zu glühen begann, als ich den Wunsch verspürte, meine Hand unter den Kragen gleiten zu lassen, über die Haut darunter zu streichen.
Ich begriff, warum ich mich schuldig fühlte, seit ich den Glaskasten beschädigt hatte. Warum mein Herz einen Sprung gemacht hatte, als er erklärte, er werde länger in China bleiben.
Warum es wie ein Schlag vor die Brust gewesen war, von seiner Frau zu hören.
Nur mit Mühe löste ich meine Hand von seiner Schulter, setzte mein Werk mit unsteten Fingern fort. Ich umwickelte das Ende des Zopfes mit dem Rest Zwirn und ließ die Hände sinken.
»Fertig?«
»Ja.«
Er erhob sich und fuhr prüfend über die kahle Hälfte seines Kopfes. Über das übriggebliebene Haar und den Zopf, drehte sich dann um.
Ein Fremder stand vor mir.
Hart wirkte sein Gesicht mit dem langen Kinn, einer Ahnung von kräftigen Wangenknochen. Die beiden Falze über den Mundwinkeln verliehen ihm etwas Strenges, das einen misstrauisch werden ließ, was seine geschwungenen Lippen als Nächstes formulieren würden.
Von einer seltsamen, fremdartigen Schönheit war er.
Aus einer Welt, die man nur aus Geschichten kannte, aus alten Liedern: vom Himmelssee oder dem Berg der Fünf Finger Buddhas. Aus dem endlosen Meer aus Sand oder von den bunten Feldern von Dongchuan, die sich auf den Hügeln stapelten wie aufeinandergelegte Scheiben leuchtender Edelsteine.