Eine Märchenwelt war es, die Fortune und Wang zwei Tage und eine Nacht beherbergte, geborgen in dieser Schale mit Farbwirbeln in Blau und Gold: den Farben des wie lackierten Himmels, der eigentümlichen Färbung des Wassers vor der Küste.
Die Rückkehr nach Ningbo, obgleich herbeigesehnt, war danach wie ein unerwarteter Hagelschauer gewesen, mitten an einem herrlichen Sommertag.
Seither war alles in ihm taub, alles grau.
Wang rückte dichter an Fortune heran.
»Ist wegen Lian, ja?«
Lian war fort.
Er nahm es Wang nicht übel, dass er eingeweiht gewesen war. Aber er nahm es Lian übel, dass er ihr nicht einmal ein Wort des Abschieds wert gewesen war.
»Was kann erwarten von jianghu? Von Frau noch dazu, hng? Wie Wetter in Bergen. Heute so, morgen weg. Wie Wind.«
Tochter des Windes.
Fast ein Jahr war das her, auf den Hügeln von Zhoushan, zwischen den Blüten von Anemone hupehensis.
Er hätte wissen müssen, dass sie nicht blieb. Genauso
gut hätte er versuchen können, den Wind zu fangen oder das Meer zu bändigen. Er hatte kein Recht, enttäuscht zu sein, sie hatte ihm nie etwas versprochen. Trotzdem fühlte er sich um etwas betrogen.
Wie um eine jener seltenen Blüten, die sich nur einmal alle paar Jahrzehnte öffneten. Obwohl sie ihm zum Greifen nahe gewesen war, er den Pollen auf den Staubblättern erkennen konnte und jede Verästelung der Blattadern, hatte er sie nicht erreichen können. Bevor er sie benennen oder auch nur näher bestimmen konnte, war sie verwelkt und vom Zweig gefallen, ins Dunkel.
Nur eine schwache Erinnerung an Farbe blieb, an einen Duft.
»Besser vergessen Lian, ja? Denken jetzt an Tee.« Wang zögerte, senkte seine Stimme zu einem Flüstern. »Und an Frau zu Hause.«
Wie die leichten Wangenschläge, mit denen man einen Besinnungslosen aufzuwecken versuchte, wirkten Wangs Worte. Er hatte recht: Fortune war kein empfindsamer Jüngling, der sich nach einem Traumbild verzehrte. Sich etwas einbildete, wo nichts gewesen war; so jemand war er nicht. Er war ein erwachsener Mann. Ein rationaler Wissenschaftler. Ein Mann des Geistes, Ehemann und Vater noch dazu.
Er schüttelte den Kopf, um den Rest von Benommenheit zu vertreiben.
Das hohle Gefühl irgendwo unter seinem Brustbein blieb.
Als eine Flut von Farbe auf seine Augen traf, blinzelte er, wie geblendet, schritt dann staunend auf die Mauer zu, die von gelben Blüten übergossen war.
Kein gewöhnliches Gelb. Ein unerwartetes, neues Gelb, wie er es an noch keiner Rose gesehen hatte, sanft und warm. Fast wie die samtweichen Lederhandschuhe eines reichen Stutzers.
Er trat in den starken, süßen Duft der Kletterrose, die sich über die Mauer rankte. Zarte, weiche Blütenblätter waren es, in mehreren Lagen, wie ein duftiger, zerschlissener Frauenrock.
Rosa odorata? Rosa lutea? Vielleicht eine Rosa gigantea in der Linie?
Fortune war sicher, eine solche Rose noch nie gesehen zu haben, dabei kam sie ihm vertraut vor. Vielleicht hatte er sie in einem anderen Garten aus dem Augenwinkel bemerkt, vielleicht ihre Urform irgendwo in der Wildnis erblickt. Obwohl es schwer vorstellbar war, dass er eine solche Schönheit übersehen haben konnte.
Der Duft war in ständiger Veränderung, neigte sich mal ins Würzige, Herbe, mal ins Fruchtige, beinahe Saftige. Genauso schien ihre Farbe zu changieren.
Hellster Bernstein, der in kräftigem Rosa errötete.
Ein edles, blasses Gelb, das lachsfarben, manchmal fast kupfern auslief.
Die Farbe einer Tasse kostbarsten Tees. Von Blütenstaub in der Luft.
Wie ein Licht aus Pfirsich und Aprikose, einem ersten Hauch von Gold. Auf einem Hügel, kurz vor Sonnenaufgang.
Er hörte Schritte hinter sich und leise Stimmen.
»Gärtner sagt, ist alte Zucht«, flüsterte Wang ihm zu. »Noch von Ming.«
Fortune streckte die Hand aus, wanderte mit den Fingern zwischen die Blätter, trotz ihres Glanzes wie Schatten gegen das pastellige Morgenlicht der Blüten.
Blüten wie Lians glühendes Gesicht.
Blätter in der Form ihrer dunklen Augen.
»Gärtner sagt, Herr hat Glück. Blüht sonst nur im Frühling. Dieses Jahr zweite Blüte, keiner weiß, warum.«
Fortune zog seine Hand zurück, zerschrammt und blutig; Stacheln steckten noch in seiner Haut.
»Frag ihn, was er dafür haben will.«
Ningbo, 12. September 1844
Liebe Jane,
vermutlich wird dies der letzte Brief sein, den Du für längere Zeit von mir erhältst.
Morgen breche ich ins Landesinnere auf – ich weiß weder, wann genau ich von dort zurück sein werde, noch ob ich die Möglichkeit habe, in den nächsten Monaten einen Brief an Dich abzuschicken.
Küss die Kinder von mir – ich nehme Euch in meinen
Gedanken mit auf diese Reise.
Robert
Immer noch trauert Jane Roberts Brief nach.
Diesem Brief, den sie in einem Zorn, der ihr nicht einmal bewusst gewesen war, zusammengeknüllt und dann so achtlos fallen gelassen hatte.
Nirgends konnte sie ihn mehr finden.
Vermutlich hat ihn eines der Kinder entdeckt und an sich genommen. Wahrscheinlich John, der mit Buchstaben noch nichts anfangen kann, während sie Helen bereits das ABC beibringt.
Doch auch nachdem sie das ganze Zimmer durchsucht, alle Kissen und Decken ausgeschüttelt, die Schränke auf den Kopf gestellt und alle Kisten mit Spielsachen geleert hat, bleibt der Brief verschwunden.
Es war doch nur ein Brief, versucht sie sich zu sagen. In dem nicht viel anderes stand, als Mr Lindley ihr mitgeteilt hat, soweit sie sich daran erinnert, etwas über eine besondere Kamelie.
Ergänzt darum, dass Robert sie um Verzeihung bat und um Verständnis.
Ein Brief, der auf unzähligen dunklen Wegen hätte verlorengehen können, auf dieser weiten Reise zu ihr.
Doch er hat sie unbeschadet erreicht, und in einem Moment der Nachlässigkeit, der trotzigen Gleichgültigkeit hat sie ihn verloren.
Die Möglichkeit hat sie verschenkt, ihn aufmerksam zu lesen. Gründlich, Wort für Wort. Roberts Stimme darin zu hören, die in ihrer Erinnerung so leise, so schwach geworden ist.
Sie hat doch nur diese Briefe.
Wie ein schlechtes Omen kommt es ihr vor, dass sie diesen Brief verloren hat, in ihren sicheren, kleinen vier Wänden.
Zwei andere Briefe kommen an, fast am selben Tag. In diesem goldenen September, der fast noch Sommer ist, keine Spur von Herbst in sich trägt.
Ein Brief stammt aus dem März, der andere aus dem Februar. Jane wiegt letzteren in der Hand und fragt sich, welche Irrwege er wohl genommen hat, auf See und über Land, dass er ein halbes Jahr brauchte, bis er den Weg zu ihr gefunden hat.
Ein Brief vom chinesischen Neujahrsfest ist es. Der andere erzählt vom Frühling auf einer blühenden Insel. Jane ist gerührt, dass Robert sie bei sich wünscht. Ihr an jenen Tagen das zeigen wollte, was er dort zu sehen bekam.
Trotzdem sind diese Briefe wie ein Schattenspiel. Flache Umrisse, schwarz auf weiß, die sie kaum mit Farbe, mit Leben füllen kann, weil sie nur Vergleiche zu dem ziehen kann, was sie kennt.